Erziehung ist keine Radiosendung. Wenn wir unsere Kinder tagtäglich mit unseren Anweisungen und Ermahnungen beschallen, dürfen wir nicht glauben, dass wir damit schon eine gute Erziehung hingelegt haben. Mit unseren Kindern entwicklungsgerecht zu sprechen und ihnen die islamische Sichtweise auf die Welt zu erklären, ist neben unserem islamischen Vorbild zweifelsohne die zweite Säule der islamischen Erziehung. Reden ist aber keine Einbahnstraße. Reden bedeutet zuhören.
Kinder sind unglaublich mitteilungsfreudige Geschöpfe. Sie brabbeln vor sich hin, sobald sie ein paar Laute zustandebringen. Kinder reden gerne und viel, denn es hilft ihnen, ihre Wahrnehmung zu ordnen und zu verarbeiten sowie mit der Welt in Kontakt und Austausch zu treten.
Dass Kinder reden, ist wirklich wichtig. Dass dein Kind mit dir redet, ist wirklich wichtig. Denn nur so bekommst du Zugang zu seinen Gedanken und Emotionen und kannst daran anknüpfen. Kinder reden mit Menschen, die zuhören. Sie öffnen sich, ihre Gedanken und ihre Herzen für Menschen, die ihnen ein Ohr schenken. Würdest du mit jemandem reden, der Desinteresse zeigt? Ein guter Erzieher ist ein barmherziges und konsequentes Vorbild im Islam. Ein guter Erzieher ist ein guter Zuhörer, noch bevor er ein guter Redner ist. Deshalb erziehen wir auch mit unseren Ohren.
Kinder, denen zugehört wird…
lernen ihre Gedanken und Emotionen zu sammeln, zu verbalisieren und zu teilen. Diese Fähigkeiten sind für das kindliche Denken, für den sozialen Austausch und für die Beziehungsfähigkeit enorm wichtig.
merken, dass ihre Sichtweise und Gedanken wichtig sind und geschätzt werden. Dies fördert ihren Selbstwert und ihre Selbstachtung.
fassen den Mut, die eigenen Gedanken und Überzeugungen zu äußern und für sie einzustehen.
haben eine feste Bindung zu ihren Eltern, Vertrauen ihnen und teilen ihre innersten Sorgen und Nöte mit ihnen.
Wenn dein Kind nicht mit dir redet, mit seinen Gedanken und Problemen nicht zu dir kommt, kann es daran liegen, dass du bisher nicht zugehört hast. Das kann den Drang deines Kindes, mit dir zu reden, beeinträchtigt haben. Doch du kannst die Mitteilungsfreude deines Kindes neu beleben, indem du ab jetzt zuhörst. Der Quran erzieht uns zu guten Zuhörern:
وَإِذا قُرِئَ القُرآنُ فَاستَمِعوا لَهُ وَأَنصِتوا لَعَلَّكُم تُرحَمونَ
“Und wenn der Quran vorgetragen wird, dann hört ihm zu und horcht hin, auf dass ihr Erbarmen finden möget!”
(Sure Al-A’raf, Vers 204)
Das Wort “إنصات”, das in diesem Vers mit “hinhorchen” übersetzt wird, bedeutet zuhören, ohne zu reden. Mit voller Aufmerksamkeit und dem Willen, das Gesagte zu verstehen.
Der Gesandte Allahs ﷺ erzieht uns mit seinem schönsten Vorbild zu guten Zuhörern:
“Wenn sich ein Mann dem Ohr des Gesandten Allahs ﷺ näherte (um zu sprechen), so sah ich nie, dass der Prophet seinen Kopf wegzog, bevor der Mann seinen Kopf zurückzog.” (Sunan Abi Dawud)
Der Gesandte Allahs ﷺ hörte selbst den Feinden des Islam von den Quraish zu und ließ sie ausreden.
Wenn dein Kind spricht, dann wende dich ihm zu. Schau es an. Leg alles beiseite, vor allem dein Handy. Lass es ausreden. Nicke bestätigend, schau freundlich. Das lädt zum Reden ein. Wiederhole Teile des Gesagten mit deinen Worten, wenn dein Kind fertig ist. Dieses verbale Spiegeln wirkt bestätigend. Stell gern Rückfragen, so entsteht ein Gespräch. Ignoriere das Gesagte nicht. Rede das Gesagte nicht klein. Rede die Sorgen und Ängste deines Kindes nicht weg. Lach dein Kind auf keinen Fall aus, für das was du gehört hast. Mach dich auf keinen Fall lustig.
Herzen die reden, öffnen sich. Geöffnete Herzen sind verwundbar. Verwundete Herzen verstummen.
Als Eltern sind wir manchmal müde und wollen weder reden, noch zuhören. Du darfst um eine Auszeit bitten: “Ich brauche ein paar Minuten Ruhe, mein Kopf ist so voll. Ich bin gleich wieder bei dir und höre dir zu.”
Dein Zuhören motiviert dein Kind, mit dir zu reden. Sich dir anzuvertrauen, seine Sorgen, Ängste und innersten Nöte mit dir zu teilen. Du motivierst dein Kind auch damit, dass du redest: Indem du von dir und deiner Kindheit erzählst, von deinem Tag, von deinen Gedanken und deinen Gefühlen. Jedoch stets entwicklungsgerecht, sodass dein Kind das Gesagte verarbeiten kann und ohne deinem Kind deine Emotionen aufzuladen. Du motivierst dein Kind, mit dir zu reden, indem du ihm Fragen stellst und es in euren Gesprächen zum Nachdenken anregst.
Kinder haben häufig vor dem Schlafengehen Redebedarf. Sie arbeiten ihren Tag und ihre bunten Erlebnisse auf. Dein Zuhören ist für dein Kind die Chance, seine Sorgen und Ängste zu Worten zu formen, mit deiner Anleitung zu ordnen und damit das kleine Herz zu entlasten. Nach Kindergarten und Schule wollen Kinder vom Erlebten erzählen. Manchmal haben sie Einwände, wenn du etwas forderst oder sagst. Sie wollen schildern, was sie beobachtet oder erklären, was sie verstanden haben. Sie protestieren, schimpfen, weinen und manchmal reden sie ganz leise. Das alles sind wichtige Chancen für dich, zuzuhören.
Eltern, die zuhören…
kennen den emotionalen Zustand ihrer Kinder und ihren kognitiven Entwicklungsstand. Sie erkennen emotionale oder kognitive Baustellen früh und können daran arbeiten.
fördern die Bindung zu ihren Kindern und empfinden mehr Empathie für die Kleinen. Dadurch können sie im Alltag mehr Geduld aufbringen und besser auf ihre Kinder eingehen.
vermeiden, dass ihre Kinder ein Doppelleben führen, eins zu Hause und eins draußen. Sie erkennen früh die Signale, wenn ein Kind sich emotional von der Familie abspaltet und droht, dadurch emotionale Abhängigkeiten zu Außenstehenden zu entwickeln, die schlechten Einfluss ausüben.
lernen! Dein Zuhören ist vor allem für dich. Denn dein Kind kann dir wertvolle Perspektiven auf dich und eure Familie eröffnen, die dir sonst verborgen bleiben.