Bismillahi Ar-Rahmani Ar-Raheem,
ob dein Kind Harry Potter lesen “darf”, wirst schlussendlich du entscheiden. Gern kann ich dir aber einige Prinzipien und Grundgedanken der islamischen Kindererziehung darlegen, sie in Bezug zu Fantasy-Romanen setzen und dir somit helfen, die richtige Entscheidung für dein Kind, eure Familie und eure Erziehungsziele zu fällen, in sha Allah. Die Frage lautet also eher “Sollte ein muslimisches Kind Harry Potter lesen?” Ich bitte übrigens auch die eingefleischten Harry Potter Fans (Ja, die gibt es auch unter erwachsenen Muslimen!) diesen Beitrag unvoreingenommen zu lesen und die Antwort aus der Perspektive und der Zielrichtung der islamischen Kindererziehung zu betrachten.
Beim Lesen läuft das Gehirn unserer Kinder auf Hochtouren. Denn sie setzen aus Buchstaben Wörter zusammen, aus Wörtern Sätze und aus Sätzen Bedeutungen. Diese Bedeutungen füllt das kindliche Gehirn durch Bilder aus der eigenen Erfahrungswelt und der eigenen Vorstellung mit Leben. Gegenüber dem visuellen Denken, das z.B. beim Fernsehen stattfindet, ist das abstrakte Denken, das beim Lesen stattfindet, eine gesteigerte und wichtigere Denkform. Lesen beschäftigt das Gehirn also ziemlich intensiv, weshalb der Lesestoff tiefgründigen Einfluss auf die Vorstellung und auch das Fühlen der kleinen Leser hat. Vor allem bei langen Büchern und Reihen wie Harry Potter, verbringen die Kinder viel und intensive Zeit mit dem Lesestoff. So nehmen die Bücher auf ihr Denken und ihre Emotionen, damit auf ihre Wünsche und ihre Persönlichkeitsbildung großen Einfluss.
Im Islam betrachten wir die Herzen unserer Kinder als Gefäße. Es gilt, sie von Schlechtem freizuhalten, damit sie mit tiefen und guten Bedeutungen gefüllt werden können. Die Süße des Iman kann nur erlangen, wer sein Herz nicht an Verbotenes oder Sinnloses gehängt hat. Nur ein Herz, das nicht mit Ablenkung überfüllt ist, hat Platz für tiefe, bewegende Erkenntnis. In der islamischen Kindererziehung unterscheiden wir deshalb 3 Arten von Medien:
Islamische Medien, welche die islamischen Werte und den Iman unserer Kinder stärken.
Förderliche Medien, welche zwar nicht in direkter Form islamisch sind, jedoch bestimmte Erziehungsziele fördern (z.B. wissenschaftliche Dokumentationen, die das nützliche Wissen unserer Kinder mehren und ihre Ehrfurcht vor Allahs Schöpfung bestärken).
Und schließlich schädliche Medien, die Verbotenes verherrlichen, Dummheit und Oberflächlichkeit fördern und vom Wesentlichen ablenken.
In einem zeitlich festgesteckten Rahmen sollten unsere Kinder ausschließlich islamische oder förderliche Medien konsumieren. Schädliche Medien sind vollständig von ihnen abzuschirmen. Zauberei ist im Islam eine Kapitalsünde und es ist unbedingt notwendig, dass wir und unsere Kinder große Abscheu davor empfinden. Denn nur so ist unser Iman vollständig. Dass Romane, die Zauberei und Hexerei beschönigen und verniedlichen in der islamischen Erziehung keinen Platz haben, sollte keiner weiteren Begründung bedürfen.
Kann ein Herz, das Jahre mit Harry Potter verbringt, sich mit den zaubernden Figuren identifiziert und für viele Stunden in der imaginären Zauberwelt versinkt, diese Abscheu empfinden? Auch sind die Teenie-Liebschaften der Romanfiguren und ihre unehelichen Beziehungen bestimmendes Thema der Harry Potter Reihe.
Fantasy-Reihen wie Harry Potter, in denen ganze Welten konstruiert werden, fördern Eskapismus, also die Realitätsflucht von Kindern und Jugendlichen. Sie befinden sich gedanklich viel und intensiv in einer irrealen Welt mit irrealen Ereignissen und irrealen Problemen. Dabei braucht unsere Ummah unbedingt kommende Generationen, die sich ihrer so zahlreichen und so realen Probleme annehmen und daran arbeiten, sie real zu lösen. Die Realitätsflucht der Fantasy-Romane bestärkt in unserer Jugend ein Gefühl der Losgelöstheit von den realen Problemen der Muslime und fördert ihre Untätigkeit.
Zudem baut sich um Harry Potter ein riesiges, hyperkapitalistisches Merchandise-Imperium auf, in dem Kinder und Jugendliche für unnütze Fanartikel immer wieder Geld ausgeben.
Auch die Autorin der Romane genießt bei den Fans einen besonderen Status. Sollen wir einer Frau, die weder an Allah ﷻ, noch Seinen Gesandten ﷺ glaubt, solchen Einfluss auf unsere Kinder gewähren?
Lesen ist einer der wichtigsten Bestandteile einer guten Kindheit und Jugend. Jedoch kann die Devise für uns Muslime nicht lauten “Hautpsache lesen!” Denn der Lesestoff unserer Kinder prägt sie gedanklich und emotional, meines Erachtens oft tiefgreifender als Filme. Denn obwohl Filme mit dem visuellen Denken die Emotionen der Zuschauer in sehr unmittelbarer Form bedienen, haben Bücher einen nachhaltigeren Einfluss. Denn sie lassen unser Gehirn intensiv arbeiten, indem wir Persönlichkeiten und Geschehnissen in unserem eigenen Denken Leben verleihen und viel Zeit mit ihnen verbringen.
Selbst Erwachsenen empfehle ich, keine Romane zu lesen. Weder Fantasy, noch Comedy, noch Liebesromane. Sie belegen emotionale und geistige Kapazitäten mit Inhalten, die im “besten” Fall unnütz und im schlechtesten Fall schädlich sind. Unsere Herzen sind ein wertvolles Gut. Nur reine Herzen dürfen am jüngsten Tag hoffen! Die Herzen unserer Kinder haben deshalb jeden erdenklichen Schutz verdient.
“Was soll mein Kind dann lesen?!”, werden Eltern entrüstet fragen. Ich möchte die Frage an uns alle zurückgeben: “Was haben wir Erwachsene getan, damit unsere Kinder guten Lesestoff haben? Mangelt es unserer Geschichte und unserer Tradition an Helden und großen Gelehrten, deren Geschichten wir unseren Kindern erzählen könnten, um ihnen feine Eigenschaften und große Motive zu vermitteln? Was haben wir getan, um unseren Kindern echte Alternativen zu bieten? Sollen die Herzen und Köpfe unserer Kinder unserem Versäumnis zum Opfer fallen? Sollen wir ihre Herzen und Köpfe mit Zauberei, irrealen Welten und Teenie-Liebschaften füllen, weil wir es verpasst haben, unsere reiche Geschichte und Tradition für sie literarisch aufzubereiten?”
Es schmerzt, dass sogar erwachsene Muslime tiefe Emotionen mit diesen Büchern verbinden und sich als “Fan” bezeichnen. Es schmerzt, dass diese Zeit und diese Emotionen nicht Größerem gewidmet wurden. Die Zeit und die Herzen und die Köpfe unserer Kinder sind mit dem Quran zu füllen, mit der Sira des Propheten, seiner Gefährten, den Rechtschaffenen, den Gelehrten, den Helden des Islam aus Vergangenheit und Gegenwart. Mit Sport und Bewegung, mit Unternehmungen und intensiven Gesprächen mit Eltern und Verwandten.
Mit förderlichen Beschäftigungen wie Handarbeit, Basteln, Zeichnen, Schreiben, Haus- und Gartenarbeit. Mit rechtschaffenen Gefährten. Unser Versäumnis darf nicht zum Verhängnis unserer Kinder werden. Dort, wo es keine Alternativen gibt, müssen wir sie schaffen.
Falls dein Kind die Romane bereits kennt und sie lesen möchte, solltest du unbedingt die Gründe für deine Ablehnung mit deinem Kind besprechen – ruhig und liebevoll. Nimm dir Zeit, deinem Kind zu erklären, warum du die Bücher für schädlich hältst. Gewinn das Herz deines Kindes mit Argumenten und Zuneigung für deinen Standpunkt. Geht gemeinsam auf die Suche nach alternativem Lesestoff. In der islamischen Erziehung werden Herzen gewonnen, nicht gebrochen. In der islamischen Erziehung werden Herzen mit Gutem gefüllt und auf den großen Lebenssinn vorbereitet, in sha Allah.
Ein sehr wichtiges Thema, das du hier angesprochen hast.
Was mir in diesem Zusammenhang immer wieder auffällt ist, dass all diese Fantasy-Filme/Bücher/Geschichten hierzulande so beliebt sind, obwohl man doch gerade hier im säkularen Europa von metaphysischen Dingen nicht viel hält. Denn die verschiedenen Figuren in diesen Erzählungen sind ja im Besitz von übernatürlichen Kräften.
Ein wie ich finde interessantes Phänomen.