„Nein! Ich schwöre beim Tag der Auferstehung. Und nein! Ich schwöre bei der Seele, die sich selbst tadelt. Meint der Mensch etwa, dass Wir seine Knochen nicht zusammenfügen werden?“ (Sure Al-Qiyama, Verse 1-3)

Allahs Schwur ist bedeutsam und schwerwiegend. Es ist der Schwur des Schöpfers bei Seiner Schöpfung: bei der Morgenhelle, beim Nachmittag, beim Abendrot und bei der Nafs, die sich selbst tadelt, An-Nafsul lawwama. Der Nafs, die sich selbst zur Rechenschaft zieht. Die sich selbst für das Schlechte tadelt, das sie angerichtet hat und mit dem Guten zufrieden ist, das sie verrichtet hat. Eine Nafs, welche um die verpassten Chancen trauert, mit denen sie das Wohlgefallen ihres Herrn hätte erlangen können.

Denn ohne Selbstreflexion und Selbsttadel, ohne Rechenschaft, kann es keine Verbesserung geben.

Wie kann Elternschaft ein Weg sein, auf dem wir wachsen und besser werden, wenn wir stillstehen? Wenn wir nicht dazulernen und uns verbessern wollen? Wer lernen will, muss seine Schwächen und seine Stärken kennen, muss sich seine Fehler eingestehen und seine guten Seiten ausbauen.

Allah (swt) schwört bei der Nafs, die sich tadelt. Das ist als Lob zu verstehen! Als Bestätigung, dass der Gläubige sich selbst zur Rechenschaft zieht – aus Furcht und aus Vorbereitung auf die große Rechenschaft. Weil der Gläubige sich Seinem Herrn stetig annähert, stetig nach Allahs Wohlgefallen strebt. Weil er Tauba macht, Reue zeigt, umkehrt und nicht auf seinem Fehler beharrt. Sich selbst zu reflektieren, zur Rechenschaft zu ziehen und zu korrigieren ist der Nährboden des Strebens nach Allahs Wohlgefallen.

Der Kafir tadelt sich selbst und seine Gleichgültigkeit nach dem Tod. Der Gläubige tadelt sich schon in diesem Leben. Dem Gefährten unseres Propheten Muhammad (saw) und zweiten Kalifen des Islam, ‘Umar Ibn Al-Khattab, möge Allah mit ihm zufrieden sein, wird folgende Aussage zugeschrieben: „Zieht euch selbst zur Rechenschaft, bevor ihr zur Rechenschaft gezogen werdet und legt euch selbst auf die Waagschale, bevor auf die Waagschale gelegt werdet. Denn es ist für eure morgige Abrechnung leichter, dass ihr schon heute mit euch selbst abrechnet.“

Der Mensch sucht naturgemäß nach seinem Wohlbefinden, seiner Erholung und seiner Ruhe. Diesem menschlichen Streben sind heute allerdings keine Grenzen mehr gesetzt. Wohlbefinden und Ruhe werden ins Ungesunde und Unerreichbare gesteigert. Wir leben in Zeiten der „good vibes only“, in der alle „negativen Energien“ und „negativen Leute“ ausschaltet werden. In denen nur Leute in unser Leben dürfen, die selbst unsere dümmsten Ideen bestätigen und uns die gute Laune nicht verderben. Unter dem Vorwand der „Selbstliebe“, hinter der sich nichts anderes als das hedonistische Streben nach dem Paradies auf Erden verbirgt, wird jeglicher Selbsttadel vom Tisch gewischt.

Dem Menschen mangelt es weder an Selbstliebe noch an Selbstschutz, keine Sorge! Es ist die Liebe seines Herrn, nach der er streben muss:

„Sag: Wenn ihr Allah liebt, dann folgt mir. So liebt euch Allah und vergibt euch eure Sünden. Allah ist Allvergebend und Barmherzig.“ (Sure Ali Imran, Vers 31)

An-Nafsul lawwama ist ehrlich mit sich selbst. Sie ist weder so hart, dass sie Verzweiflung und Resignation erzeugt. Noch ist sie so nachlässig, dass Faulheit und Stagnation entstehen. An-Nafsul Lawwama lebt zwischen der Furcht vor Allahs Strafe und der Hoffnung auf Seine Barmherzigkeit. Zwischen der eigenen Fehlbarkeit und der Vergebung Des Allerbarmers.

An-Nafsul lawwama erteilt „good vibes only“ eine klare Absage. Denn ihre Zusage gilt der Reue, der Besserung, der aufrichtigen Arbeit an sich selbst und dem Streben bis zum letzten Atemzug.

Der „Lawm“, der Tadel des Gläubigen, beginnt mit Selbstreflexion, gefolgt von Rechenschaft, Veränderung und Verbesserung. Der Gläubige erkennt seine Fehler und korrigiert sie. An seinem rechten Verhalten hält er fest, dankt Allah (swt) dafür und baut es weiter aus.

Vor allem als Eltern brauchen wir An-Nafsul lawwama. Denn wir müssen mit unseren Kindern wachsen. Mit unserer Verantwortung wachsen. Mit ihrer Erziehung wachsen. Unsere Kinder stehen nicht still. Sie wachsen und gedeihen, körperlich wie geistig. Sie dürsten danach, zu lernen und groß zu werden. Danach, das Gelernte auszuprobieren. In die Welt hinauszugehen und doch zu uns mit ihren Erfahrungen, Fragen und Enttäuschungen zurückzukehren.

Eltern, die sich nicht entwickeln, den rasanten Weg ihrer Kinder nicht mitgehen, verlieren den Anschluss an die Entwicklung ihrer Kinder. Verlieren den Überblick, den Bezug und die Gefährtenschaft ihrer Kinder. Wir dürfen nicht aus Gleichgültigkeit, Faulheit oder gar Stolz auf unseren Fehlern beharren. Wir müssen die Kritik jener willkommen heißen und dankbar annehmen, denen an unserer Entwicklung gelegen ist. Vor allem, wenn sie von unseren Kindern kommt! Doch warten muslimische Eltern nicht untätig auf Kritik, vielmehr leben sie in dauernder Selbstreflexion. Sie legen abends den Kopf auf ihr Kissen und danken Allah (swt), für das, was sie mit ihren Kindern gut gemacht haben. Ihre Brust wird hingegen eng beim Gedanken an das, was sie falsch gemacht haben. Sie bitten Allah (swt) um Vergebung und darum, ihnen noch einen Tag zu gewähren, an dem sie es mit Seiner Hilfe besser machen.

Muslimische Eltern nehmen sich Zeit für Selbstreflexion. Das gehört zu ihrem Lebensweg, zu ihrer Elternschaft und zu ihrem Tagesplan. Weil Selbstreflexion und Selbstkritik Teil der muslimischen Elternschaft sind. Nach den Gebeten, vor allem nach dem Fajr, wenn Kopf und Herz noch frei sind. Nach den Adhkar des Morgens und des Abends, vor dem Einschlafen, bei einem Spaziergang oder einem Glas Tee. Muslimische Eltern reflektieren sich und bitten im Du’a um Vergebung. Sie bitten Den Starken für ihre große Aufgabe um Kraft und Stärke, um in ihrer islamischen Erziehung standhaft zu bleiben und es immer besser zu machen.

Muslimische Eltern suchen beieinander aufrichtige Nasiha und verständnisvolle Kritik. Weil es ihnen nicht darum geht, einander oder andere zu beeindrucken. Weil es ihnen um ihre Abrechnung geht. Weil sie ihre Erziehung in die Waagschale des Jenseits legen.