“Könnt ihr beiden den Rubiks Würfel lösen? Yunus kann ihn lösen!”, sagt die Schwester zu meinen Söhnen. “Wir haben so einen Würfel, aber wir können ihn noch nicht lösen.”, sagen meine Jungs aufrichtig. In diesem Moment bin ich stolz. Viel stolzer, als ich es jemals sein werde, wenn meine Jungs den Rubiks Würfel lösen. Denn die beiden sind zufrieden mit sich und es stört sie kein bisschen, dass Yunus etwas kann, was sie nicht können. Alhamdulillah. Wir haben Yunus (zum Schutz seiner Identität ist dies nicht sein echter Name) und seine Mama heute zum ersten Mal getroffen. “Sie nennen ihren Sohn ein Genie. Er ist schon in Videos als Wunderkind aufgetreten.”, erzählt mir die Schwester, die den Kontakt zwischen mir und Yunus’ Mama hergestellt hat. Yunus tat mir leid, noch bevor ich ihn das erste Mal getroffen hatte.
Manche Eltern haben Erwartungsdächer, so hoch wie Wolkenkratzer. Ihre Kinder müssen in allem die Besten sein, in allem brillieren. Perfektion wird zum Mindestmaß der Kindererziehung und jede Freude wird durch den Wettbewerb mit anderen Kindern zerstört. Tatsächlich aber kann kein Kind das überhöhte Erwartungsdach seiner Eltern tragen. Es kann nur daran zerbrechen. Unsere Kinder sind nicht unsere Aushängeschilder. Sie sind nicht unsere Erziehungszertifikate. Sie sind auch nicht die Verkörperung unserer gescheiterten Träume. Sie gehören Allah und nicht uns.
Im Islam werden Mühen belohnt. Nicht, ob wir das perfekte Ergebnis erbringen, denn Vollkommenheit gebührt ausschließlich Allah. Nicht einmal, ob wir überhaupt das Ziel erreichen. Denn wir wissen, dass Tawfiq, der Erfolg, nur von Allah kommt. Unsere Taten werden entsprechend unserer Absichten bewertet und selbst wer eine gute Absicht fasst, ohne sie verwirklichen zu können, wird im Islam dafür belohnt.
Der Gesandte Allahs ﷺ sagte: “Wahrlich, die Handlungen sind entsprechend der Absichten.” (Sahih Al-Bukhari)
Steter Leistung- und Perfektionsdruck, ständiges Vergleichen und Konkurrieren tut niemandem gut. Schon gar nicht der kindlichen Persönlichkeit, die noch im Aufbau ist, geprägt und programmiert wird.
Kinder, die unter viel zu hohen Erwartungsdächern aufwachsen, werden zum Hamster im Hamsterrad. Wisst ihr, was an diesem Hamster besonders traurig ist? Dass er immer rennt und keinen Halt macht? Ja, das auch. Aber vor allem, dass von Anfang an klar ist, dass er nicht ankommen kann. Kinder, die unter überhöhten Erwartungsdächern aufwachsen, werden genauso rastlos wie der sprichwörtliche Hamster. Sie sind immer mit sich unzufrieden. Sie finden ihren Selbstwert nur in messbaren Leistungen. Sie sind auch immer unzufrieden mit anderen. Denn das Höchstmaß ist nie genug, es ist immer nur die Vorstufe zu noch höherer Leistung. Dabei wissen wir als Muslime ganz genau, dass ein unersättliches Streben nach “Mehr” verheerende Folgen in diesem und im nächsten Leben hat.
“Das Streben nach Mehr lenkt euch solange ab, bis ihr die Gräber besucht.” (Sure At-Takathur, Verse 1&2)
Lasst die krankhaften, kapitalistischen Verständnisse von Selbstoptimierung, Produktivität, Leistung und Erfolg nicht in eure Häuser. Sie heben euer Erwartungsdach so hoch, dass es irgendwann über euch und euren Kindern zusammenkracht. Als Muslime haben wir das Verständnis von Allahs Wohlgefallen. Es lässt sich in den größten und in den kleinsten Dingen erlagen. Unsere Kinder sind keine Hamster und auch keine zukünftigen Ärzte, Ingenieure, Anwälte und Gelehrte. Jetzt gerade sind sie Kinder. Und wenn sie so weit sind, werden sie entscheiden, welchen Weg sie für Allah (swt) und seinen Deen gehen können und wollen.
Bis dahin bekommen unsere Kinder unsere Liebe und Wertschätzung. Sie bekommen unser Lob und unsere Anerkennung. Für jede Verbesserung, für jeden neuen Schritt, egal wie klein er ist. Denn unser Fokus liegt nicht auf dem Ziel und auch nicht auf dem Weg. Er liegt auf jenem, der sich auf dem Weg Allahs ernsthaft abmüht. Kinder, die geliebt, geachtet und geschätzt werden, entwickeln Selbstwert. Sie entwickeln Selbstachtung. Sie können Allah, sich und andere lieben. Und sie haben die Erwartung an sich selbst, für Allah ihr Bestes zu geben. Die Frage lautet also nicht: “Hast du XY geschafft? Hast du XY erreicht?” Eigentlich lautet sie: “Hast du dein Bestes gegeben?”
Selbstverständlich fördere ich meiner Kinder und lenke sie in gottgefällige Richtungen. Denn ich wünsche mir, dass sie dereinst Allah, dem Islam und den Muslimen dienlich sind. Wir fördern unsere Kinder, lassen sie ihre Talente und Vorlieben entdecken, geben ihnen die Möglichkeit zu erfahren und auszuprobieren…aber auch zu scheitern, aufzustehen und daraus Lehren fürs Leben zu ziehen. Wisst ihr, an welchen Hadith ich in diesem Zusammenhang denken muss?
“Doch wer den Quran liest und dabei stottert und er ihm schwer fällt, dem wird zweifacher Lohn zuteil.” (Sahih Muslim)
Erlauben wir unseren Kindern, aus ihrem Selbstwert und ihrer Selbstachtung heraus, aus ihrer echten Liebe zu Allah, über sich hinauszuwachsen und Großartiges zu erreichen. In der Geschichte des Islam mangelt es nicht an großen Persönlichkeiten, die in dieser und der nächsten Welt Unglaubliches erreicht haben. Keine dieser Persönlichkeiten wurde kapitalistischen Vorstellungen von Leistung, Produktivität und Erfolg unterworfen. Vielmehr konnten sie mit ihrem felsenfesten Iman, ihrem unermüdlichen, aufrichtigen Streben nach Allahs Wohlgefallen und dem Tawfiq von Allah sprichwörtliche Berge versetzen.
Kinder wachsen nicht an überhöhten Erwartungsdächern. Sie zerbrechen daran. Kinder gedeihen mit Liebe, Achtung und Wertschätzung. Sie wachsen an Herausforderungen und für Allah wachsen sie über sich selbst hinaus. Der Erfolg unserer Kinder kommt ohnehin nicht von uns. Er ist der Tawfiq von Allah und die Frucht ihrer eigenen Mühen.