Das Weinen im Islam
Weinen ist Ausdruck menschlicher Emotion, es gehört zur menschlichen Natur. Der Schöpfer des Menschen gab uns im Islam einen Deen, der die menschliche Natur und ihre Emotion würdigt. Der Islam kanalisiert die menschlichen Bedürfnisse, das menschliche Denken, Fühlen und Handeln auf eine Art, die wahrhaftig ist und gut für den Einzelnen, sowie die Gemeinschaft. Der Islam misst Emotionen große Bedeutung bei. Denn für Allah (swt) zu fühlen, zu lieben, was Er liebt, zu verabscheuen, was Er verabscheut…das vervollständigt den Iman. Emotionen stoßen Denkprozesse an und motivieren den Menschen, die Welt aktiv zu gestalten, zB gefühltes Unrecht zu beseitigen. Emotionen sind als Anstoß des Denkens und Motor des Handelns wichtig.
Im Islam kann Weinen eine Form des Gottesdienstes und Zeugnis eines weichen, reinen Herzens sein. In der Offenbarung wird Weinen nicht zu Schwäche in Bezug gesetzt, ganz im Gegenteil.
“Als ihnen die Zeichen des Allerbarmers verlesen wurden, fielen sie ehrerbietig und weinend nieder.” (Sure Maryam, Vers 58)
Warum weinst du?
Imam Ibn Al-Qayyim (rh) unterscheidet 10 Arten des Weinens: das Weinen aus Furcht & Angst, aus Barmherzigkeit & Sanftmut, aus Liebe & Sehnsucht, aus Freude & Vergnügen, das Weinen vor Schmerz, aus Trauer, aus Schwäche & Ermattung, das heuchlerische Weinen, das bezahlte Weinen (etwa von Klageweibern) und schließlich das Mitweinen, wenn jemand anderes weint. Die vorzüglichste Art des Weinens ist das Weinen aus Furcht vor Allah البكاء من خشية الله.
Der Gesandte Allahs ﷺ sagte: “Ein Mann, der aus Furcht vor Allah weint, wird nicht in das Feuer eintreten, bis die Milch in den Euter zurückkehrt.” (Sunan At-Tirmidhi)
Er ﷺ sagte: “Sieben genießen den Schutzschatten Allahs, wenn es keinen Schutzschatten außer Seines Schutzschattens gibt…ein Mann, der Allahs in Abgeschiedenheit gedachte und aus seinen Augen Tränen quellten.” (Sahih Al-Bukhari)
Wenn Propheten weinen…
Der Gesandte Allahs ﷺ weinte häufig und zu verschiedensten Anlässen: im Gebet, wenn er ﷺ Qur’an hörte oder rezitierte, als sein Sohn Ibrahim starb, als er nach dem Tod von Khadijah (ra) auf eine erneute Heirat angesprochen wurde und als er ﷺ das Grab seiner Mutter besuchte. Er weinte um die Muslime, die ihn nicht gesehen haben. Der Gesandte Allahs ﷺ weinte in aller Öffentlichkeit. Der Gesandte Allahs ﷺ rezitierte eines Tages Verse aus dem Qur’an (Sure Ibrahim, Vers 58 und Sure Al-Maida, Vers 118), in denen die Propheten Ibrahim und Issa (as) auf ihre Ummah Bezug nehmen. Da hob der Prophet Muhammad ﷺ seine Hände und sprach: “Oh Allah! Meine Ummah, meine Ummah!” und weinte. (Sahih Muslim)
Wenn die Rechtschaffenen weinen…
Selbst im Weinen nahmen sich die Sahaba (ra) ein Vorbild an ihrem Propheten. Männer, die dereinst schroff waren, weinten nun, bis ihre Bärte nass wurden. Sie weinten aus Furcht vor Allah (swt), sie weinten um ihren Propheten ﷺ, sie weinten bei der Rezitation des Qur’an, sie weinten an den Gräbern ihrer ver-storbenen Weggefährten, sie weinten, wenn sie an das Jenseits dachten und aus Barmherzigkeit mit der Schöpfung Allahs.
Der Gesandte Allahs ﷺ sagte zu Ubay Bin Ka’ab: “Allah befahl mir, dir den Qur’an vorzutragen.” Da fragte Ubay: “Hat Allah mich dir genannt?” Er ﷺ sagte: “Ja.” Ubay fragte: “Wurde ich beim Herrn der Welten erwähnt?” Er ﷺ sagte: “Ja.” Da begannen seine Augen (von Ubay) vor Tränen überzuquellen. (Sahih Al-Bukhari)
Das Weinen eines Muslims kann Zeichen seines Iman, seines vorzüglichen Charakters und seiner aufrichtigen Emotionen sein. Weinen ist nicht mit Schwäche gleichzusetzen. Im Islam ist aber nicht jede Emotion richtig. Das vorzügliche Weinen hat vorzügliche Motive. Der Muslim ist bestrebt, sein Herz nicht für weltliche Anlässe zu bewegen und seine Tränen nicht für Schlechtigkeiten zu vergießen, sondern für das, was ihn Allah (swt) näher bringt und womit Allah zufrieden ist.
Das kindliche Weinen
Beim Erwachsenen ist das Weinen Ausdruck von Emotionen. Bei Kindern ist das Weinen zunächst ein Kommunikationsmittel. Mangels Fähigkeit zur verbalen Kommunikation machen Säuglinge durch Weinen auf ihre Bedürfnisse aufmerksam. Mit fortschreitendem Alter erlernen Kinder andere Formen der non-verbalen und natürlich die verbale Kommunikation. Das Weinen des Kindes nimmt ab, es ist immer weniger Kommunikation und dient fortschreitend dem Ausdruck der kindlichen Emotionen. Da die Kommunikationsmöglichkeiten des Kindes aber weiterhin in der Entwicklung sind, sollten Eltern sich beim Weinen des
Kindes zunächst die Fragen stellen: Kommuniziert mein Kind durch das Weinen ein Bedürfnis? Weint mein Kind aus Frustration über seine noch mangelnde Fähigkeit zur Kommunikation eines Bedürfnisses oder einer Emotion?
Wenn dein Kind weint, dann nimm dir ein paar Minuten Zeit. Schließe dein Kind in den Arm. Deine körperliche Nähe vermittelt deinem Kind Sicherheit und Trost. Du kannst beruhigende Worte sprechen oder etwas aus dem Qur’an rezitieren, auch deine Stimme schenkt deinem Kind Sicherheit. Wenn dein Kind richtig schluchzt, kannst du ihm etwas zu trinken reichen. Die kleine Erfrischung unterbricht das Schluchzen auf sanfte Art. Während du dein Kind im Arm hältst, kannst du fragen: “Was fühlst du?” “Was hat dich zum Weinen gebracht?” “Wie kann ich dir helfen?”
Hör deinem Kind geduldig zu, lass es seine Emotionen reflektieren und mitteilen. Wenn die Sprachkenntnisse deines Kindes noch begrenzt sind, kannst du ihm durch gezieltes Nachfragen helfen, sich mitzuteilen.
Das Weinen reflektieren und lenken!
Die kindliche Emotion, die das Weinen ausgelöst hat, ist zunächst einmal eine Tatsache. Gib deinem Kind das Gefühl, dass du es verstehst, indem du seine Emotion spiegelst:“Ich merke, dass du ziemlich traurig bist.” “Ich verstehe, dass dich das sehr wütend macht.” Tadel oder schimpfe dein Kind nicht für das Weinen. Die kindliche Fähigkeit Emotionen zu reflektieren und kontrollieren ist noch unreif. Als Eltern, die eine islamische Kindererziehung anstreben, ist es aber unsere Aufgabe, mit unseren Kindern ihre Emotionen zu reflektieren und auf gottgefällige Motive zu lenken.
“Ich verstehe, dass du traurig bist, weil dein Spielzeug kaputt gegangen ist. Doch Allah (swt) hat bestimmt, dass dieses Spielzeug für begrenzte Zeit bei dir ist und du hast schön damit gespielt, Alhamdulillah. Lass uns Allah (swt) dafür danken. Wenn Allah will, wird Er dir stattdessen etwas Besseres geben.”
Manchmal nutzen Kinder (dies gilt nicht für Säuglinge, ihr Weinen ist Kommunikation, keine Manipulation!) aufgesetztes Weinen, um Druck auf die Eltern auszuüben. Auch hier gilt es, ruhig zu bleiben und das Kind ernst zu nehmen. Gleichzeitig sollten Eltern das aufgesetzte Weinen beenden, damit es nicht zur kindlichen Gewohnheit wird. Beim aufgesetzten Weinen kann man:
1. konfrontieren – “Du weinst, weil du fernsehen möchtest.”
2. reflektieren – “So lange fernzusehen schadet dir.”
3. ablenken -“Komm, wir bereiten zusammen das Abendessen vor.”
Eltern dürfen vor Kindern weinen
Entsprechend des prophetischen Vorbildes sollten Eltern das gute Weinen normalisieren. Eltern dürfen vor ihren Kindern weinen. Wichtig ist, den Kindern dabei Sicherheit zu vermitteln: Indem die Gründe für das Weinen mit dem Kind entwicklungsgerecht besprochen werden. Indem Eltern erläutern, dass es normal ist zu weinen. Indem Eltern ihren Kindern Wege aufzeigen, wie sie Emotionen bewältigen und in Positives umwandeln: “Ich werde Du’a für den Verstorbenen machen./Ich werde im Qur’an Trost finden./Ich werde bei Allah Tauba machen und mich entschuldigen.” Und Allah weiß es am besten.
Tränende Augen sind Zeugen eines weichen Herzens, sie sind kein Zeichen der Schwäche. Möge Allah (swt) uns und unseren Kindern Herzen und Augen schenken, die um Allahs willen aufrichtige Tränen vergießen.
*Unser Buch “Das weinende Kamel” kann euch dabei helfen, die Themen Trauer und Weinen mit euren Kindern zu bewältigen. Es basiert auf dem authentischen prophetischen Hadith über das weinende Kamel.