“Wenn du nicht aufisst, kommen die bösen Ameisen und fressen dein Essen.”

“Wenn du jetzt nicht stillsitzt, rufe ich die Polizei. Sie stecken dich ins Kindergefängnis”

“Wenn du weiter so schreist, kommst du ins dunkle Zimmer.”

Eltern drohen ihren Kindern und jagen ihnen absichtlich Angst ein, weil sie nicht mehr weiterwissen. Weil sie sich in eiligen und stressigen Situationen überfordert fühlen: “Das Kind macht einfach nicht, was ich sage!” Also greife ich zum letzten Mittel und weiß insgeheim genau, dass diese Angstmache nicht der richtige Weg für mein Kind sein kann.

Angst ist eine existenzielle Emotion. Sie gehört zu unserer emotionalen Grundausstattung und ist Teil unserer Menschlichkeit. Gesunde Angst ist ein wichtiger Schutzmechanismus, den Allah ﷻ in uns veranlagt hat. Auch Kinder sollen diese schützende und gesunde Angst empfinden, etwa vor einer vielbefahrenen Straße, vor einem scharfen Messer oder einem Fremden, der dem Kind zu nah kommt. Wenn wir unsere Kinder allerdings mit Drohungen und Angstmache erziehen, verwandelt sich die gesunde, schützende Angst in ein Hemmnis. Sie kann das Kind ein Leben lang hemmen sowie
zu psychischen und sogar physischen Beeinträchtigungen führen.

Kinder vertrauen darauf, dass Erwachsene die Wahrheit sagen. Sie können sich nicht vorstellen, dass Mama und Papa lügen, sie mit Unwahrheiten bedrohen oder in Wirklichkeit gar nicht vorhaben, die Drohung umzusetzen. Wenn wir mit der Polizei, Killerameisen, Monstern, Geistern, der Dunkelheit oder Verbrechern drohen, dann ist dieses Szenario für unsere Kinder eine reale Bedrohung.

Wenn Angstmache regelmäßiger Teil der elterlichen Erziehungsmethoden ist, dann wird das kindliche Hirn auf Angst programmiert. Denn die betreffenden Hirnregionen werden regelmäßig stimuliert. Das Kind kann einen ängstlichen Charakter entwicklen und hat fortan vor den scheinbar normalsten Situationen und Abläufen Angst.

Kinder, die mit diesen irrealen aber für sie sehr echten Ängsten leben müssen, können ernsthafte psychische und physische Beeinträchtigungen entwickeln. Darunter emotionalen Rückzug und Isolation, aber auch Schlafstörungen, nächtliches Einnässen und Appetitlosigkeit. Bei starken Ängsten kann es zu Schmerzen im Brustkorb und Atemnot kommen, in Extremfällen sogar zu posttraumatischen Stressstörungen und Panikattacken.

Dauerhaft geängstigte Kinder verlieren die Fähigkeit, zwischen bedrohlichen und sicheren Situationen zu unterscheiden. Wenn die Angstmache von den Eltern ausgeht, erleidet das Kind einen schmerzvollen Vertrauensverlust. Dies kann seine Fähigkeit, soziale Bindungen aufzubauen und zu pflegen dauerhaft beeinträchtigen. Das Kind leidet an mangelndem Selbstbewusstsein. Abgewandelt in Verlustängste oder Beziehungsängste, kann das Kind seine Kindheitsängste ins Erwachsenenalter mitnehmen.

Im Islam ist es nicht erlaubt, Kinder anzulügen. Unwahre Drohungen, bedrohliche Fantasie-szenarien und sonstige Unwahrheiten sind allein schon aus diesem Grund in der islamischen Kindererziehung verboten.

‘Abdullah Bin ‘Amer berichtet: “Meine Mutter rief mich eines Tages zu sich, als der Gesandte Allahs ﷺ in unserem Haus saß. Sie sagte zu mir: ‘Komm und ich gebe dir etwas.’ Da sagte der Gesandte Allahs ﷺ zu ihr: ‘Was wolltest du ihm geben?’ Sie antwortete: ‘Eine Dattel.’ Der Gesandte Allahs ﷺ sagte zu ihr: ‘Hättest du ihm nichts gegeben, wäre dies als Lüge von dir aufgeschrieben worden.'” (Sunan Abi Dawud)

Erinnerst du dich, wann dein Kind das letzte Mal richtig Angst hatte? Bitte ruf dir seinen panischen Gesichtsausdruck ins Gedächtnis. Dein Kind absichtlich in diesen Zustand zu versetzen, widerspricht der Barmherzigkeit mit Kindern, die unser Prophet ﷺ uns aufgetragen hat.

Der Gesandte Allahs ﷺ sagte: “Es ist nicht von uns, wer unseren Kleinen keine Barmherzigkeit erweist und die Rechte unserer Älteren nicht einhält.”
(Musnad Imam Ahmad)

Der Gesandte Allahs ﷺ sagte auch: “Wer keine Barmherzigkeit zeigt, dem wird keine Barmherzigkeit erweisen.”
(Sahih Al-Bukhari)

Dein Kind hat in jeder Situation, in der es Angst empfindet, Anrecht auf deinen Schutz. Es ist deine Amana von Allah ﷻ und wurde in deine Obhut und Fürsorge übergeben. Biete deinem Kind in beängstigenden Situationen körperlichen Schutz. Nimm es in den Arm, streichle es, rede mit sanfter Stimme beruhigend auf dein Kind ein.

Wir nehmen Ängste ernst. Wir bauen kindliche Ängste ab und bauschen sie keinesfalls auf. Unsere Aufgabe ist es, unsere Kinder bei ihrer Angstbewältigung zu begleiten, statt Ängste zu schüren.

Statt: “Ja der Käfer ist ja wirklich gruselig! Er sieht ekelhaft und bedrohlich aus! Hilfe, lass uns schnell ins Haus rennen!”

Besser: “Komm schnell in meinen Schoß! Schau, das ist ein Käfer, subhanallah. Er ist ganz klein und kann dir nichts tun. Du kannst ihn aus meinem Schoß anschauen, wenn du nicht so nah rangehen magst. Wusstest du, dass Käfer ganz wichtige Aufgaben in der Natur erfüllen? Manche von ihnen helfen bei der Bestäubung von Blüten. Andere verwerten Reste und natürlichen Abfall. Sie sind Geschöpfe Allahs. Wie schön Allah alles erschaffen hat!”

Vermeide hektische Situationen, in denen dein Kind wie ein Roboter funktionieren soll, damit du nicht zu Drohungen greifst. Plane einen kleinen Zeitpuffer ein, bereitet euch vor und besprich deine Pläne frühzeitig mit deinem Kind.