Die richtige Frage lautet nicht, ob mein Kind etwas selbst machen muss. Sie lautet vielmehr, wann mein Kind etwas selbst machen kann. Denn in der islamischen Kindererziehung streben wir Tamkin, die Ermächtigung unserer Kinder an. Wir halten unsere Kinder nicht an der kurzen Leine und wir halten sie nicht klein. Wir geben ihnen mit auf den Weg, was sie für ihre Eigenständigkeit brauchen. Denn sie werden in diesem Leben ihre eigenen Prüfungen bewältigen müssen und am Tag der Abrechnung werden sie allein vor ihrem Schöpfer stehen. Für den Tamkin unserer Kinder ist es wichtig, ihnen schrittweise und entwicklungsgerecht ihre Angelegenheiten zur eigenen Bewältigung zu übergeben, damit sie das Leben üben können.

“Ich tue alles für mein Kind!” Diese Einstellung kann gut gemeint sein und doch großen Schaden anrichten. Denn so halten vor allem Mütter ihre Kinder in Abhängigkeit. “Es macht aber so viele Umstände, wenn sie sich selbst anziehen, sich selbst ein Brot schmieren, selbst ihr Spielzeug aufräumen oder selbst ihr Bett machen. Wenn ich es mache, geht es schneller und läuft direkt richtig.” Wenn Kinder etwas selbst machen, kann das an unseren Nerven zerren, denn die Kleinen sind langsam und produzieren bei ihrer Eigenständigkeit so manchen Kollateralschaden. Der Übergang in die Eigenständigkeit ist für unsere Kinder schwer und für uns manchmal noch schwerer. Denn in den Säuglingsjahren besteht fast vollständige Abhängigkeit. Daran haben wir uns gewöhnt und auch unsere Kinder. Doch nun wollen sie selbstständig werden und daran sich selbst erfahren. Unsere Kinder über ihre Säuglingsjahre hinaus in Abhängigkeit zu halten, tut ihnen Unrecht. Sie ohne Anleitung und Hilfe in die große neue Welt zu stoßen aber auch.

Ich tue die Dinge für mein Kind, die es noch nicht kann. Mit Liebe und Geduld, denn dies ist mein Gottesdienst. Was mein Kind bereits kann, übergebe ich wohlwollend in seine kindliche Verantwortung. Denn ich arbeite auf einen eigenständigen Menschen hin, der Verantwortung für sich selbst und später auch andere tragen kann. Ich erwarte dabei nicht, dass mein Kind etwas kann, das ich ihm nicht beigebracht habe. Am Anfang der kindlichen Selbständigkeit steht immer die elterliche Anleitung. Etwas zu erwarten, das ich nicht beigebracht habe, ist unfair. Denn in der islamischen Kindererziehung gilt das Prinzip des Irshad, der Anleitung. Daneben steht das Prinzip der Rahma, der Barmherzigkeit.Wir stehen unseren Kindern helfend zur Seite, das gibt ihnen die nötige Sicherheit. Damit auch sie lernen, sich selbst und anderen zu helfen.

Der Gesandte Allahs ﷺ sagte: “Wer einem Gläubigen eine Sorge von den Sorgen dieser Welt nimmt, dem wird Allah eine Sorge von den Sorgen des Tages der Auferstehung nehmen. Wer einem Bedürftigen die Bedrängnis erleichtert, dem wird Allah auf dieser Welt und im Jenseits Erleichterung geben.” (Sahih Muslim)

Wichtig ist, dass unsere Hilfe sich nicht in eine Rückgabe der Aufgabe verkehrt. Unsere Kinder sind klug und können unsere Hilfe nutzen, um eine Aufgabe schrittweise an uns zurückzugeben. Hilfe bieten wir dort und so lange, wie sie notwendig ist und freuen uns gemeinsam mit unseren Kindern über jeden noch so kleinen Fortschritt und jeden noch so kleinen Erfolg. Denn wir haben ihre schrittweise Eigenständigkeit vor Augen, in die unsere Kinder hineinwachsen dürfen. Dafür schaffen wir ein sicheres Umfeld und erzeugen keine Überforderung. Denn Überforderung endet nicht in Ermächtigung, sondern in Resignation.

Wir händigen unseren Kindern nicht direkt das scharfe Fleischmesser aus, um das Fleisch für den Eintopf zu portionieren. Mit einem ungefährlichen Brotmesser können sie zunächst an Obst und Gemüse üben. Wir schicken unsere Kinder noch nicht bei Dunkelheit über die vielbefahrende Straße zum Container am Ende des Blocks, während sie sich vor dem lauten Hundegebell ängstigen. Sie können aber an den Mülltüten im Haus üben und sie in die Tonne vor dem Haus werfen. Wir lassen das ältere Geschwisterkind nicht über Stunden mit dem schreienden Baby allein. Während wir eine häusliche Aufgabe erledigen, können die Älteren die Jüngeren aber im Nebenzimmer auf Trab halten.

Jede familiäre Realität ist einzigartig und in machen Familien werden die Kleinen schneller selbständig als in anderen, denn die Umstände mögen dies erfordern. Auch die genannten Beispiele sind flexibel, denn irgendwann können unsere Kinder das Fleischmesser nutzen, eine dunkle Straße hinablaufen und sich zeitweise um ein Baby kümmern. Wir bemessen die Aufgaben an der Entwicklung des Kindes und erzeugen nicht absichtlich Überforderung. Denn Überforderung führt zum Gefühl der Unfähigkeit, dem Gegenteil der Ermächtigung. In der richtigen Dosis hingegen verwandelt sich die Selbstständigkeit unserer Kinder zuerst in Ermächtigung und dann in Selbstwert:

“Ich kann meine Schuhe allein zubinden.”

“Ich kann mein Brot selbst schmieren.”

“Ich kann meine Bücher sortieren.”

“Ich kann meine Zähne putzen.”

“Ich kann eine Gurke schälen.”

“Ich kann meiner Schwester die Jacke anziehen.”

“Ich kann die Pflanzen im Wohnzimmer gießen.”

Jede einzelne dieser Alltagstätigkeiten wird im kindlichen Denken zu einer Fähigkeit. Wie die Qualifikationen in einem Lebenslauf! Diese Fähigkeiten verwandeln sich in Ermächtigung. Und aus Ermächtigung wächst Selbst-wert. Denn das Kind hat einen ganzen Katalog von Dingen, die es kann! Dein Kind hat einen richtig vollen Lebenslauf!

Wir überlassen unsere Kinder aus ihrer anfänglichen Abhängigkeit schritt-weise in ihre Eigenständigkeit. Mit Anleitung und Hilfe führen wir sie zu ihrer Ermächtigung und ihrem Selbstwert. Der Prozess der Loslösung ist lang und manchmal schmerzhaft, für Eltern wie Kinder gleichermaßen. Mit einer großen Portion Liebe, Geduld und Vertrauen auf Allah ﷻ läuft er viel sanfter ab.