Viele Grundbausteine der menschlichen Persönlichkeit werden bereits in den ersten Lebensjahren des Kindes gelegt.

Als muslimische Mütter wünschen wir uns für diese Jahre eine Zauberformel, mit der unsere Kinder ganz einfach und ganz sicher gottergebene, erfolgreiche, zufriedene Muslime werden. Gibt es so eine Zauberformel, die Erziehung kinderleicht macht? Die aus unseren Kleinkindern große Persönlichkeiten zaubert? Ganz sicher nicht. Allerdings gibt es eine Wahrheit, die für die Mütter und Väter von Kleinkindern gilt: Du bist der Islam deiner Kinder!

Das abstrakte Denken ist bei Kindern erst in der Entwicklung und beginnt sich ungefähr im siebten Lebensjahr zu formen. Erst mit 12 Jahren haben Kinder vollständig die Fähigkeit zu abstrakten Gedankengängen erlangt. Für die islamische Erziehung bedeutet dies, dass Kinder ihre Eltern über viele und vor allem die prägenden Lebensjahre hinweg mit dem Islam gleichsetzen.

Mama und Papa sind für Kinder nicht nur “Muslime”. Mama und Papa sind für Kinder “der Islam”.  Das Kind ist noch nicht in der Lage, den Islam von den elterlichen Personen und dem elterlichen Verhalten zu abstrahieren. Muslimische Eltern, die ausgeglichen, freundlich, liebevoll, lebensbejahend und positiv sind, übertragen diese Eigenschaften im kindlichen Denken auf den Islam. Das Kind kommt zu der emotionalen Überzeugung:

“Der Islam ist liebevoll und barmherzig. Er macht das Leben schöner. Der Islam schenkt den Menschen Zufriedenheit. Der Islam ist gut.”

Muslimische Eltern die unzufrieden, ablehnend, lieblos, streng oder sogar gewalttätig sind, übertragen diese Eigenschaften im kindlichen Denken ebenfalls auf den Islam. Das Kind gelangt zu der emotionalen Überzeugung: “Der Islam ist hart und unbarmherzig. Er macht das Leben schwer. Der Islam macht die Menschen traurig und wütend. Der Islam ist nicht gut.”

Die elterliche Liebe ist der Zement der islamischen Werte unserer Kinder. Unsere Zuneigung und Fürsorge werden die islamischen Werte fest in unseren Kindern verankern, noch lange bevor die Kinder sie vollständig erfassen können.

Die Schlussfolgerung für uns Eltern lautet deshalb: Wir sind der Islam unserer Kinder. Unser Dhikr und unser Gebet sind in den ersten Lebensjahren die Beziehung unserer Kinder zu Allah swt. Unser Verhalten verkörpert im kindlichen Weltbild das Vorbild des Propheten Muhammad ﷺ. Unser Islam ist der Islam unserer Kinder.

Die Säuglings- und Kleinkindjahre des Kindes sind Jahre der körperlichen Abhängigkeit und Nähe. Dies ist vor allem eine physische Herausforderung für die Mutter, kann aber auch eine emotionale Belastung darstellen. In der Säuglingsphase findet noch keine aktive Vermittlung islamischer Inhalte statt. Jedoch ist der Quran, das Wort Allahs, ein ständiger Begleiter und eine Quelle der Geborgenheit für unsere Kinder. In dieser Zeit braucht das Kind eine Mama, die anwesend, liebend, ausgeglichen und annehmend ist. Sie vermittelt dem Kind Sicherheit, Vertrauen und das Gefühl, geliebt zu werden. All dies ist die Grundlage des Selbstwertes und einer lebensbejahenden Haltung des Kindes.

Der Säugling braucht eine Mama, die ihre Aufgabe annimmt, lebt, ausfüllt und liebt! Eine Mama, die keine Negativität auf das Kind abstrahlt, das Kind womöglich ablehnt, ihre Aufgabe als Mutter insgeheim ablehnt und sich wünscht, dass die Kinder einfach so schnell wie möglich groß und unabhängig werden. Kinder brauchen eine Mama, die mit ihrer Aufgabe zufrieden ist.

„Was ist daran die große Kunst?“, mag man sich jetzt fragen. „Die weibliche Fitra will doch ohnehin heiraten und Kinder bekommen.“ Ich denke wir wissen inzwischen alle, dass der Feminismus die Mutterschaft in eine echte Krise gestürzt hat. Frauen, die sich der Mutterschaft hingeben und sich gegen eine Erwerbstätigkeit entscheiden, gelten als faul, zurückgeblieben und als schlechtes Vorbild für ihre Mädchen. Die Mutterschaft wird in den liberalen und auch in unseren muslimischen, zwangsliberalisierten Gesellschaften systematisch abgewertet. In Serien, Filmen, durch feministische Vorbilder in den sozialen Medien, in den Schulen und an den Universitäten.

Erziehen wir unsere Mädchen aktiv dazu, Mütter werden zu wollen? Präsentieren wir die Mutterschaft als eine wertvolle, bedeutsame, ehrbare Aufgabe? Oder als eine elende, bemitleidenswerte Aufgabe? Unsere Mädchen müssen in uns Vorbilder finden, die ihnen den Weg in die Mutterschaft erleichtern und die ihnen darin Vorbilder sind. Die in ihnen den Wunsch wecken, ihre Fitra auf eine gottgefällige Art zu befriedigen und zu verwirklichen. Damit junge Frauen diese Lebensphase und damit ihre Kinder annehmen. Damit sie der Islam ihrer Kinder sein können.

Vor allem wenn die Kinder klein sind und sich der Alltag schwerpunktmäßig um Haushalt, Familie und Kinder dreht, dürfen und müssen junge Frauen diese Lebensphase als positiv empfinden, als eine wertvolle Zeit! Wertvoll für sie persönlich, wertvoll für ihre Familie und wertvoll für die Gemeinschaft der Muslime.

Abschließend möchte ich auf drei Prinzipien der Islamischen Erziehung eingehen, die uns Eltern mit dem Import liberalen und materialistischen Gedankenguts zunehmend abhandenkommen und die von Anfang an in der Erziehung unserer Kinder von Bedeutung sind.

  1. Anleitung statt Freiheit

Mit etwa 2 Jahren treten unsere Kinder in die Autonomiephase ein und entwickeln ihren eigenen Willen. Mit zunehmenden Sprachkenntnissen äußern die Kleinen ihren Willen, sagen gern „Nein“ und stellen ununterbrochen Fragen. In der islamischen Erziehung gilt das Prinzip der Anleitung, nicht der Freiheit.  Das Konzept der Hidaya, der Rechtleitung, ist uns allen ein Begriff. Als Muslime sind wir überzeugt davon, dass wir als Geschöpfe auf die Rechtleitung unseres Schöpfers angewiesen sind. Genauso wie wir der Rechtleitung Allahs und der Anleitung Seiner Offenbarung bedürfen, brauchen unsere Kinder unsere liebevolle Anleitung und eine klare Richtschnur, was richtig und was falsch ist. Als Eltern praktizieren wir deshalb Irshad, die Anleitung unserer Kinder. Irshad ist der klare, islamische Rahmen, in dem wir unseren Kindern ihre Eigenständigkeit gewähren. Wir erklären unseren Kindern warum etwas richtig oder falsch ist, nehmen dabei auf die Offenbarung Bezug, beziehen sie in unsere Entscheidungen ein, fragen nach ihrer Meinung, regen sie zum Denken an, beantworten all ihre Fragen…Jedoch sind die Vorgaben Allahs niemals bloß eine Option. Die Gebote und Verbote Allahs sind richtig. Unser islamisches Menschenbild ist die Grundlage unserer Erziehung: Unser Kind ist ein Geschöpf, das in seiner Natur auf Rechtleitung und Anleitung angewiesen ist. Gleichzeitig wurden die Söhne Adams von Allah swt mit Verstand geehrt und den kindlichen Verstand würdigen wir.

  1. 3 Beziehungen

Die islamische Erziehung findet in 3 Beziehungen statt: Der Beziehung zwischen Mama und Kind, der Beziehung zwischen Mama und Allah sowie der Beziehung zwischen dem Kind und Allah.

Als Mütter müssen wir uns jeden Tag vergegenwärtigen, dass unsere Bemühungen um unsere Kinder ein Gottesdienst sind. Unsere Kindererziehung ist unser Projekt für Allah (swt) und wir werden von Allah befragt werden, wie wir mit der Amana unserer Kinder umgegangen sind.

Außerdem ist es an uns, den Grundstein der kindlichen Beziehung zu Allah swt zu legen, indem wir bewusst immer wieder Bezüge zwischen der kindlichen Realität und Allah swt herstellen.

  1. Denken – Fühlen – Handeln

Ziel der islamischen Erziehung ist es, einen jungen Muslim auf den Weg des Lebens zu bringen…

…der im Islam die Wahrheit erkennt.

…der Allah, Seinen Gesandten und Seinen Deen aus tiefstem Herzen liebt.

…der zeitlebens bemüht ist, durch rechtes Handeln Allahs Wohlgefallen zu erlangen und dem Vorbild des Propheten ﷺ‏ näherzukommen.

Der Islam ist kein Handlungskatalog und es ist nicht damit getan, den Kindern eine islamische Praxis abzuzwingen. Die islamische Praxis unserer Kinder steht auf dem Fundament ihrer Überzeugungen vom Islam, die wir ihnen geduldig erklärt und immer und immer wieder anhand ihrer Realität aufgezeigt haben. Die islamische Praxis unserer Kinder basiert auf ihrer Liebe zu Allah und Seinem Gesandten ﷺ, die wir ihnen vorgelebt haben. Die islamische Praxis unserer Kinder besteht aus den Gewohnheiten der Familie, die wir mit unserer eigenen Praxis früh geformt haben.

Und zum Schluss vergessen wir nicht, dass die Rechtleitung unserer Kinder, ihre Rechtschaffenheit und ihre Gottesfurcht nicht in unseren Händen liegen, sondern allein bei Allah! Deswegen werden unsere Bemühungen von unserem steten Du’a begleitet.

Dr. Nora Zeineddine

September 2022 – Safar 1444