Eine Tugend kann zum Unrecht werden

Es gibt Tugenden, die als “typisch deutsch” gelten. Pünktlichkeit gehört dazu und ist den meisten Menschen in Deutschland sehr wichtig. Eigentlich ist es schön, sich auf die Zeitangaben der anderen verlassen zu können. Doch wenn es um Mamas und Kinder geht, kann Pünktlichkeit zum Unrecht werden. Jede Mama, insbesondere kleiner Kinder, kennt den Druck, den Stress und leider auch das Geschrei, das Termine und Zeitdruck auslösen können.

Kinder sind keine Automaten

Kinder, vor allem kleine, sind keine Roboter, die auf Knopfdruck funktionieren. Kinder haben in den ersten Lebensjahren überhaupt kein Zeitgefühl und können Angaben wie “In 5 Minuten müssen wir los!” nicht der richtigen Zeitspanne zuordnen. Insbesondere in der Autonomiephase (ca. 2-4 Jahre) ist es für Mamas wirklich schwer, einen geregelten Alltag zu planen oder durchzuführen. Denn in dieser Zeit emanzipieren die Kleinen ihr Dasein von ihrer Bezugsperson, erfahren ihren eigenen Willen und entwickeln ihn vor allem daran, alles selbst, alles anders und am liebsten gegen Mamas Willen machen zu wollen.

Zeitdruck wird zum Geschrei

Stellt euch mal folgende Situation vor: Mama hat einen Termin…beim Arzt, in der Moschee oder mit einer Freundin. Die Kleine möchte sich aber unbedingt selbst anziehen. Und obwohl es draußen bitterkalt ist, muss es heute ein Sommerkleid sein. Beim Anziehen kriegt die kleine einen Wutausbruch, weil die Socken einfach nicht über das kleine Füßchen wollen. Das Baby hat in der Zeit natürlich eingemacht und den halben Maxi Cosi vollgespuckt. Mama steht nun vor der Wahl: Entweder ich schreie die Kleine zusammen, drohe ihr so lange, bis sie sich verängstigt anziehen lässt und bin pünktlich…oder ich nehme mir die Zeit, sie beim selbständigen Anziehen zu begleiten, mache das Baby in aller Ruhe sauber und komme halt zu spät.

“Mama muss halt besser Planen!”

Der superkluge Tipp, dass Mama halt besser planen und am besten schon 3 Stunden früher mit dem “Rausgehen” anfangen muss, ist realitätsfremd und im engen, wuseligen und unvorhersehbaren Alltag mit Kindern nicht oder nur selten praktikabel. Betrachten wir doch mal das Beispiel des Gebets: Allah (swt), der Schöpfer der Menschen, Der das größte Anrecht auf die Zeit Seiner Geschöpfe hat…gewährt uns für jedes unserer fünf Pflichtgebete ein großzügiges Zeitfenster. Unser Herr, erhaben ist Er, bringt den Menschen ein großzügiges Verständnis von Pünktlichkeit entgegen. Obgleich es am besten ist, direkt zum Anbruch der Gebetszeit zu beten, weiß jede Mama, wie wertvoll dieses großzügige Zeitfenster ist!

Barmherzigkeit geht vor Pünktlichkeit!

Unser geliebter Prophet Muhammad ﷺ pflegte das Gemeinschaftsgebet kurz zu halten, wenn er ein Kind weinen hörte, um es der Mutter zu erleichtern. Mamas haben Erleichterung verdient. Mamas haben ein großzügiges und nachsichtiges Verständnis von Pünktlichkeit verdient. Denn Mamas sind das wichtigste Glied der Gesellschaft und die gesamte Gemeinschaft hat sich auf die wichtige Aufgabe der Kindererziehung auszurichten und diese zu erleichtern.

Der Prophet ﷺ sagte: “Es ist nicht von uns, wer unseren Kleinen keine Barmherzigkeit entgegenbringt.” (Sunan Abi Dawud)

Zu der Barmherzigkeit mit unseren Kleinen gehört, dass wir ihre Mamas nicht vor unbezwingbare Hürden stellen.

Idee – Gefühl – Verhalten

Gehen wir nochmal in die Situation an der Haustür zurück: Kind bockt, Baby spuckt, Mama schreit. Diese Situation muss nicht mit Geschrei und dem schlechten Gewissen der Mama enden. Jedes Verhalten (Geschrei) geht auf ein Gefühl (Wut/Überforderung) und eine dahinterstehende Idee (“Ich muss pünktlich sein!”) zurück. Wenn wir das negative Gefühl und Verhalten ablegen wollen, müssen wir also die Idee angehen, denn sie ist die Quelle. Wie wäre es denn, wenn die Idee fortan lautet: “Ich bin eine Mama. Mamas dürfen zu spät kommen, wenn die Situation es verlangt.”

Natürlich ist dies kein Aufruf, andere unnötig warten zu lassen. Denn als Muslime verschwenden wir keine Ressourcen, halten unsere Versprechen und nehmen die Gefühle der anderen ernst. Jedoch unterwerfen wir uns auch nicht blind kapitalistischen Lehrsätzen wie “Zeit ist Geld.” Als Gemeinschaft müssen wir unser Verständnis von Pünktlichkeit überarbeiten, wenn es um Mamas und ihre Kinder geht. Wie wäre es statt-dessen mit dem Lehrsatz “Barmherzigkeit geht vor Pünktlichkeit”? Wenn wir die Idee besiegen, dass eine Mama (und eigentlich jeder Mensch) um jeden Preis pünktlich sein muss, können wir auch die mit der Unpünktlichkeit verbundene Wut (Gefühl) und das folgende Geschrei (Verhalten) ablegen.

Mamas dürfen zu spät kommen

Die gesellschaftliche Erwartung, dass auch Mamas immer punktgenau sein müssen, wird sich nicht von heute auf morgen ändern. Doch zunächst können wir Muslime an einem gesunden, islamischen Pünktlichkeitsbegriff arbeiten. Als Mamas dürfen wir aktiv um Verständnis bitten: “Ich bitte darum, mir einen zeitlichen Puffer zu geben. Ich habe kleine Kinder und kann nicht auf die Minute pünktlich sein.” Als Mamas sollten wir unsere Woche nicht mit zu vielen Terminen überladen oder überladen lassen. In der Moschee, unter Freundinnen und in der Familie sollten keine rigiden Termine für Mamas von kleinen Kindern gelten. Arbeiten wir an unserer Idee, damit wir unsere Gefühle und unser Verhalten in den Griff bekommen…damit unser ungerechtes Vertsändnis von Pünktlichkeit unseren Kindern kein Unrecht tut.