Alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder teilen, abgeben und später zu den freigiebigen Spendern gehören. Denn wir sind die Diener von Al-Karim, dem Großzügigen, Der seine gesamte Schöpfung mit seinen unendlichen Segnungen versorgt. Großzügigkeit lehrte uns auch unser Prophet Muhammad ﷺ und spornte die Muslime zur Sadaqa an. Denn die Sadaqa löscht unsere Sünden, wie das Wasser das Feuer löscht. In unserem erzieherischen Eifer drängen oder zwingen wir unsere Kinder manchmal dazu, etwas abzugeben oder zu teilen. Doch wir merken schnell, dass dies nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt, ganz im Gegenteil. Das gezwungene Kind klammert sich fortan noch verzweifelter an seine Besitztümer und will am liebsten gar nichts mehr abgeben.

Allah ﷻ hat den Menschen in seiner Fitra mit dem Bedürfnis ausgestattet, sich Dinge anzueignen, sie für sich zu nutzen, den eigenen Besitz zu schützen und zu mehren. Das Besitzbedürfnis ist ein Teil der menschlichen Nafs, es wurde uns von Allah ﷻ verliehen und ist für das menschliche Dasein und Zusammenleben wichtig. Doch wie jedes Bedürfnis wird es vom Islam kanalisiert und in gute, gottgefällige Bahnen gelenkt.

Beginnen wir die Antwort auf unsere Frage, ob wir unsere Kinder zum Teilen zwingen sollten, mit einigen Grundgedanken aus dem islamischen Recht. Denn der Fiqh gibt uns Eltern einen wichtigen Lageplan für unsere islamische Erziehung. Er zeigt uns auf, welche Grenzen wir im Umgang mit unseren Kindern und ihrem Besitzstreben wahren. Er gibt uns die Grundlage, auf der wir unsere Vision für unsere Kinder aufbauen. Gleichzeitig werdet ihr erkennen, dass die islamische Kindererziehung dem Fiqh eine zusätzliche Linse aufsetzt…doch dazu gleich etwas mehr.

Im Islam besitzen Kinder Rechtsfähigkeit, sie können also Eigentum erlangen. Ein Kind kann z.B. ein Grundstück erben und wird damit zum Eigentümer des Grundstücks. Bis das Kind die Reife erlangt, wird sein Eigentum jedoch vom Wali verwaltet, das ist regelmäßig der Vater. Gleichzeitig hat unser Prophet Muhammad ﷺ Eltern erlaubt, vom Eigentum ihrer Kinder zu nehmen, was die Eltern brauchen. Denn unser Prophet ﷺ sagte: “Du und dein Vermögen sind für deinen Vater.” An diesen Hadith knüpfen viele islamrechtliche Folgen, die den Umfang dieses Beitrags sprengen. Für unseren Zweck reicht die Feststellung, dass Eltern grundsätzlich vom Eigentum ihrer (kleinen oder erwachsenen) Kinder nehmen dürfen, was sie für sich selbst wirklich brauchen. Rasulullah ﷺ hat Eltern auch erlaubt, ein Geschenk an ihre Kinder zurückzunehmen. Beide Ahadith findet ihr in den Sunan von Abi Dawud.

Was wir für unsere Kinder an Kleidung und Spielzeug kaufen, geht nach der islamrechtlichen Wertung nicht in ihr Eigentum über, sondern bleibt im Eigentum der Eltern. Rein rechtlich dürfen wir mit diesen Sachen unserer Kinder tun und lassen, was wir wollen.

“Ja dann ist ja alles geklärt! Wozu dann überhaupt die Frage und der ganze Beitrag? Wir können unseren Kindern Sachen wegnehmen, ihr Zeug verschenken und sie zwingen, Sachen abzugeben und zu teilen!”

Moment! Selbstverständlich bildet der Fiqh den Rahmen unserer Erziehung. Er zieht die Grenzen, die wir keinesfalls übertreten und ist unsere sichere Grundlage. Doch nun kommt eine Feststellung, die für alle muslimischen Eltern enorm wichtig ist und ich bitte alle Eltern, sie zu beherzigen:

In der Kindererziehung, so wie in allen anderen Bereichen unseres muslimischen Lebens, tun wir nicht alles, was zulässig ist. Denn in unserer Kindererziehung geht es weder darum, es uns leicht zu machen, noch uns selbst zu befriedigen. Wir verfolgen viel höhere Ziele! Wir wollen unseren Kindern helfen, den Weg der Gottergebenen einzuschlagen.

Wir müssen die Ziele und Prinzipien der islamischen Kindererziehung verstehen und uns mit dem prophetischen Charakter vertraut machen. Nur so entwickeln wir Gefühl und Verständnis dafür, wie wir unsere Kinder mit Allahs Erlaubnis zum Ziel bringen. In der islamischen Kindererziehung setzen wir eine zusätzliche Linse auf, jedoch ohne jemals die Grenzen des Fiqh zu übertreten, möge Allah uns bewahren.

Für unsere Beziehung zu unseren Kindern und den Erfolg unserer islamischen Erziehung ist es essenziell wichtig, dass sie bei uns Sicherheit und Schutz empfinden.Dazu gehört auch, dass wir mit den Besitztümern unserer Kinder nicht willkürlich verfahren. Die Kleinen verstehen die islamrechtliche Komponente noch nicht und fühlen sich von ihren Eltern ungerecht behandelt, wenn Gegenstände, die sie als ihre eigenen erachten, scheinbar grundlos weggenommen oder ohne ihre Zustimmung verschenkt werden. Die Kinder erleiden einen echten Vertrauensbruch. Sie fühlen sich bei ihren Eltern nicht mehr sicher und klammern nur noch verzweifelter an Gegenständen.

Rasulullah ﷺ trat Kindern mit Achtung entgegen. Lies dazu bitte unseren Beitrag “Erlaubst du, mein Junge?”

Kinder können nur dann lernen, das Eigentum und die Rechte anderer zu achten, wenn auch sie diese Achtung erfahren.

Großzügigkeit und Freigebigkeit gehören aber unbedingt zu den Zielen der islamischen Erziehung. Geiz, Gier und Besitzsucht sind Eigenschaften, die Allah ﷻ verabscheut und auch die Gläubigen verabscheuen. Es ist unsere Aufgabe, ihnen bei unseren Kindern aktiv entgegenzuwirken.

Für Großzügigkeit und Freigiebigkeit brauchen unsere Kinder: das Vorbild der Eltern + ein inneres Motiv

Die Eltern sind mit sich selbst:

genügsam – Dein Kind lernt, dass wir unseren Besitzdrang kontrollieren.

bescheiden – Dein Kind lernt, dass der Muslim seine Zufriedenheit nicht in Gegenständen sucht.

Eltern sind mit anderen, vor allem dem eigenen Kind:

großzügig – Teil dein Essen mit deinem Kind, schenk ihm etwas, das dir lieb ist, lad es auf ein Eis ein.

freigiebig – Such Möglichkeiten, Sadaqa zu geben und tu dies regelmäßig.

Pflanz in deinem Kind ein inneres Motiv für Großzügigkeit und Freigiebigkeit:

Lernt gemeinsam Allahs Namen “Al-Karim und Ar-Razzaq” sowie ihre Bedeutungen.

Lernt die Suren Al-Humaza und At-Takathur, besprecht sie und reflektiert sie auf eure Realität.

Gib anschauliche Beispiele der Großzügigkeit des Propheten ﷺ und der Sahaba (Abu Bakr r.a. gab seinen gesamten Besitz für den Islam!)

Richtet zu Hause eine Sadaqa-Dose ein, in die dein Kind jedes Mal einen Teil seines Taschengeldes spendet.

Ladet Familie und Freunde zum Essen ein, bastelt ihnen kleine Geschenke.

Erzähl deinem Kind Geschichten über großzügige Kinder und die Freude des Teilens.

Erklär deinem Kind, dass die Schreiberengel auf seinen Schultern jede Sadaqa, jedes Teilen und jedes Abgeben
als Hasana im Tatenbuch deines Kindes notieren.

Mach deinem Kind jeden Tag Hasanat-Angebote: “Wer will sich eine Hasana verdienen? Eure kleine Schwester möchte auch Lego spielen. Wer gibt ihr ein paar Steine ab?”

Sortier gemeinsam mit deinem Kind regelmäßig klein gewordene Bekleidung und ungenutzte Spielzeuge ab, gebt sie an Bekannte und Bedürftige weiter. Zunächst kann dein Kind sich dagegen sträuben, doch langsam gewöhnt es sich daran. Erzeug dabei Empathie, erzähl vom Bedarf anderer Kinder. Erzwing aber keine Spenden, die dein Kind überfordern: das Lieblingskuscheltier, ein geliebtes Buch, eine Erinnerung an Oma und Opa darf es natürlich behalten.

Wenn dein Kind das Teilen gelernt hat und nun etwas verschenken will, dann unterstütz es dabei. Auch wenn es das Eid-Geschenk ist, mit dem dein Kind erst wenige Tage oder Wochen gespielt hat. Achte aber darauf, dass dein Kind versteht, dass es das Geschenk dauerhaft abgibt und nicht zurückfordern kann.

Wenn dein Kind sich in einer Situation vollständig gegen das Teilen oder Abgeben sträubt, dann zwing es nicht. Denn Wohltaten und Gutes lassen sich nicht erzwingen, sie kommen in sha Allah mit der Zeit und von Herzen. Lös die unangenehme Situation auf, indem du für das traurige Kind einspringst und deinem Kind zeigst, wie es gehen kann: “Ich gebe dir gern mein Stück Kuchen! Ich gebe dir die Buntstifte von meinem Schreibtisch! Ich habe zwar keinen zweiten Bagger, aber ich hole dir eine Schaufel.”

Muss mein Kind teilen? Ja, das muslimische Kind muss Großzügigkeit und Freigiebigkeit lernen.
Doch es kommt ganz darauf an, wie es das lernt.