“Verabscheu immer den Fehler, aber nicht den, der den Fehler macht.” Dies soll Imam Ash-Shafi’i (rh) zu
einem seiner Schüler gesagt haben.

Der Gläubige liebt Allahs Gebote und verabscheut alles, was Allah verboten hat. Die Abscheu gilt dabei dem schlechten Verhalten, nicht der Person, die sich schlecht verhält. Wir trennen im Islam zwischen dem Fehler und der Person, die den Fehler begeht.

Es wird berichtet, dass der Prophetengefährte Abu Ad-Darda’ (ra) einmal an einem Mann vorbei-kam, der eine Sünde begangen hatte und von den Menschen dafür beschimpft wurde. Da sagte Abu Ad-Darda’ zu den Leuten: “Wäre er in einen Brunnen gefallen, hättet ihr in nicht rausgeholt?” Sie sagten: “Doch!” Abu Ad-Darda’ sprach: “Beschimpft euren Bruder nicht und dankt Allah, Der euch vor seiner Sünde bewahrt hat.” Die Leute fragten: “Verabscheust du ihn denn nicht?” Abu Ad-Darda’ antwortete: “Ich verabscheue seine Tat, doch wenn er davon ablässt, so ist er mein Bruder.” (Kitab Az-Zuhd lil Imam Abi Dawud, Shu’ab al-Iman lil Imam Al-Bayhaqi)

Welches Recht haben wir, eine ganze Persönlich-keit mit einem Fehlverhalten gleichzusetzen?Welche Hoffnung lässt man dieser Person, die derart abgeurteilt wird? Woher soll sie die Motivation nehmen, es fortan
besser zu machen?

Die Tore zu Allahs Barmherzigkeit sind für die Reu-mütigen weit geöffnet. Welches Recht haben wir,
sie zu verschließen, indem wir abstempeln? Das Prinzip der Trennung des Verhaltens von der agierenden Person gilt insbesondere in der islamischen Kindererziehung. Die Persönlichkeiten unserer Kinder sind im Aufbau und werden maßgeblich davon beeinflusst, welches Selbstbild wir auf unsere Kinder reflektieren. In den ersten Jahren begreifen unsere Kinder sich selbst über uns, über ihre Eltern. Dann kommen die Jahre, in denen sich die kindliche Persönlichkeit herausbildet und emanzipiert. Unsere Kinder übernehmen unsere Bewertung ihrer Person in ihr Selbstbild. Sie sehen sich selbst so, wie wir sie sehen.

Unsere Aufgabe ist es, Persönlichkeiten aufzubauen, statt sie zu zerstören. Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, unsere Kinder mit Irshad anzuleiten und sie richtig und falsch zu lehren. Wir trennen gedanklich und verbal das kindliche Verhalten von der kindlichen Person: “Ich korrigiere das Verhalten meines Kindes. Mein Kind ist nicht schlecht und auch kein hoffnungsloser Fall. Mein Kind bleibt mein Kind.” So sehen wir und unsere Kinder nicht sich selbst, sondern ihr Verhalten in der Kritik. Vor allem verpassen wir unseren Kindern keine negativen Eigenschaften, weil sie sich falsch verhalten haben. Ein einzelnes Verhalten ist noch keine Eigenschaft und etwas anderes, als die kindliche Person.

Statt: “Du bist ein Lügner!
Immer sagst du die Unwahrheit!”
Besser: “Es war nicht richtig, die Unwahrheit zu sagen.
Wir sind doch die Ummah von As-Sadiq Al-Amin.”

Statt: “Ich kann dein Genörgel einfach nicht ausstehen!
Ich hab noch nie so einen ungeduldigen Menschen wie dich erlebt!”
Besser: “Es macht mich nervös, dass du alle 10 Sekunden fragst, wann
das Essen fertig ist. Bitte warte jetzt, Allah ist doch mit den Geduldigen.”

Statt: “Kannst du eigentlich nur meckern und heulen? Du bist so eine Heulsuse.”
Besser: “Ich weiß, dass du müde bist. Deswegen putzen wir flott die Zähne und ziehen den Schlafanzug an.
Das Weinen hilft uns dabei aber nicht. Jetzt hör gut zu, ich erzähle dir dabei eine kurze Geschichte.

Statt: “Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht im Wohnzimmer Fußball spielen darfst?
Verstehst du Dummerchen denn überhaupt nichts?”
Besser: “Du weißt, dass ich dir verboten habe, im Wohnzimmer Fußball zu spielen. Überall steht Glas.
Ich werde das nicht jeden Tag wiederholen. Entweder du gehst draußen spielen oder der Fußball
kommt in den Schrank.”

Statt: “Du bist ein Grobian mit deiner kleinen Schwester und hast überhaupt kein Mitgefühl!”
Besser: “Deine kleine Schwester ist traurig, dass du sie geschubst hast. Das war nicht richtig.
Wir sollen doch barmherzig mit den Kleinen sein. Komm wir nehmen sie in den Arm.”

In den ersten Aussagen wird die kindliche Person angegriffen und ihr negative Eigenschaften zugeschrieben (Lügner, Ungeduld, Nörgler, Heulsuse, Dummheit, Grobian, Gefühllosigkeit). Die schlechten Eigenschaften können sich durch unseren Vorwurf wie eine selbsterfüllende Prophezeiung tatsächlich im kindlichen Selbstbild verankern. Wer die kindliche Person schlecht macht, trägt nicht zur Besserung bei. Es mag sein, dass dein Kind das betreffende Verhalten künftig unterlässt, weil es unbedingt Mamas und Papas Anerkennung und Liebe zurückgewinnen will.

Jedoch geht dies auf Kosten des kindlichen Selbstwertes und das ist ein schwerer Verlust, der sich bald auch in negativem Verhalten des Kindes sichtbar machen wird. Deshalb sprechen wir nur das falsche Verhalten an, begründen es und zeigen auf, wie es richtig geht. Ohne die Person unseres Kindes mit dem Verhalten gleichzusetzen und ohne den kindlichen Selbstwert zu verletzen.

Wenn dein Kind etwas falsch gemacht und du es damit konfrontiert hast, kann das dein Kind verun-sichern. Deshalb fragen Kinder in solchen Situationen häufig: “Liebst du mich noch? Liebst du mich nicht mehr?” Egal wie sauer du in diesem Moment bist, bitte sag deinem Kind auf seine Frage hin immer, dass du es trotzdem liebst:

“Natürlich liebe ich dich. Ich liebe dich immer! Denn Allah hat die Mutterliebe/Vaterliebe in mein Herz gesetzt und die kann niemand dort herausholen. Du bist für immer in meinem Herzen. Es geht nicht um dich. Es geht um das, was du getan hast.”

Dein Kind muss wissen, dass es nur um sein Verhalten geht und dass seine Person weiterhin geliebt und geachtet wird.

Wer das Verhalten des Kindes von der kindlichen Person trennt, erhält das positive Selbstbild, den Selbstwert und die kindliche Motivation, es künftig besser zu machen. Unsere Kinder haben ein Anrecht auf unsere Barmherzigkeit und ein Anrecht darauf, sie als Kinder zu behandeln, die Fehler machen und daraus lernen dürfen. Sie haben ein Anrecht darauf, dass wir die Tore zu Allahs Barmherzigkeit für sie offenhalten und ihnen aufzeigen, dass sie es stets besser machen können und dass Allah sie liebt. Unsere Kinder haben ein Anrecht darauf, dass wir ihr Verhalten von ihrer Person trennen.