Eine der häufigsten Klagen von Eltern lautet: “Mein Kind ist so stur!” Doch was meinen Mama und Papa eigentlich, wenn sie ihr Kind als “stur” bezeichnen?

“Mein Kind macht nicht sofort, was ich sage! Ich muss die Aufforderung mehrfach wiederholen.”

“Mein Kind macht nur widerwillig, was ich sage. Es schimpft und meckert dabei und zeigt mir, dass es meine Aufforderung eigentlich nicht ausführen will.”

“Mein Kind ist ungehorsam. Es widersetzt sich meinen Anordnungen, obwohl es sie versteht. Es sagt und zeigt deutlich und manchmal sogar aggressiv, dass es meine Forderung nicht umsetzen wird.”

Manche „Sturheit“ ist gesund

Vieles von dem, was Eltern als „Sturheit“ bezeichnen, ist ganz natürliches kindliches Verhalten. Eigentlich ist es sogar ganz natürliches menschliches Verhalten und wir Eltern würden uns in denselben Situationen genau wie unsere vermeintlich „sturen“ Kinder verhalten. Denn oft drängen wir unsere Kinder mit unseren Befehlen in die Ecke und lassen ihnen keine andere Wahl, als zu „bocken“.

Deshalb lasst uns zunächst jene Situationen aussortieren, die wir Eltern fälschlicherweise in die Schublade der Sturheit einordnen, obwohl sie natürliches kindliches Verhalten sind. Danach können wir uns den Gründen und Lösungen der echten Sturheit widmen.

Willensstarke Kinder sind wertvoll

Liebe Eltern, manchen von uns hat Allah ﷻ ein willensstarkes Kind geschenkt. Willensstarke Kinder sind starke Charaktere, die Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen wollen. Sie sind die Art von Menschen, die später mit Allahs Hilfe große Leistungen für diese Ummah vollbringen. Sie sind später in der Lage, die schwere Verantwortung für die Probleme und Herausforderungen unserer Ummah zu schultern, unter der andere zusammenbrechen.

Liebe Mama, lieber Papa, wenn Allah ﷻ euch ein willensstarkes Kind geschenkt hat, dann brecht es nicht, indem ihr es als „stur“ abstempelt. Die Ummah von Muhammad braucht euer Kind! Denn euer willensstarkes Kind wird es später mit den Problemen aufnehmen und die Hindernisse überwinden, an denen die „Ja-Sager“ unserer Generation zerbrochen sind. Die Propheten Allahs, Allahs Segen und Frieden auf ihnen, waren keine Ja-Sager. Die Sahaba des Propheten Muhammad, möge Allah mit ihnen allen zufrieden sein, waren keine Ja-Sager. Die rechtschaffenen und großen Persönlichkeiten der islamischen Geschichte waren keine Ja-Sager, möge Allah ihnen allein Seine Barmherzigkeit erweisen.

Kein Roboter-Gehorsam für muslimische Kinder

Die meisten Kinder sind nicht stur. Sie sind kleine Menschen mit eigenem Willen. Wir Eltern müssen die kindliche Forderung nach Selbständigkeit und Eigenmächtigkeit in unserem Denken unbedingt positiv bewerten. Denn Kinder, die zu allem „Ja“ sagen und jeden unserer Befehle sofort ausführen, haben ein Problem. Kinder, die nie nachhaken, kritisieren oder diskutieren, werden später für ihre Eltern zum Problem. Diese Kinder sind nicht auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet. Sie haben gelernt Befehle auszuführen. Sie haben hingegen nicht gelernt, Probleme zu bewältigen.

Wir dürfen von unseren Kindern keinen Roboter-Gehorsam zu erwarten. Als muslimische Eltern wünschen wir uns von unseren Kindern klugen, mitdenkenden Gehorsam. Mehr dazu findet ihr in meinem Video „Gedanken zur muslimischen Mutterschaft“ auf unserem Youtube Kanal NUN Media.

Für manche „Sturheit“ gibt es gute Gründe

Liebe Eltern, bitte schließt körperliche Gründe für die vermeintliche „Sturheit“ eurer Kinder aus. Kinder, die übermüdet sind, haben ihren Gemütszustand nicht mehr unter Kontrolle. Viele von ihnen werden weinerlich, doch andere Kinder werden richtig bockig. Übermüdete Kinder als „stur“ abzustempeln ist unfair. Kinder, die zu viel Zeit am Bildschirm verbringen, können ebenfalls aggressives Verhalten entwickeln. In diesen Fällen liegt es an uns Eltern, die Schlafenszeit und die Bildschirmzeit unserer Kinder derart zu regulieren, dass sie sich positiv auf das Befinden und das Verhalten unserer Kinder auswirken.

Unsere Kinder werden manchmal bockig, weil sie großen Hunger verspüren. Vor allem die Kleinen können ihr Hungergefühl noch nicht aufschieben und empfinden es als überwältigend. Nicht selten wird unser Kleinkind nach einer sättigenden Mahlzeit wieder ganz zahm. Auch fiebernde oder kränkelnde Kinder können bockig werden. Bitte habt in den Krankheitsphasen Nachsicht mit euren Kindern. Sie brauchen jetzt eure Zuwendung.

Vor allem unter sieben Jahren ist das Verstehen unserer Kinder noch sehr visuell. Wenn Mama ihrem Kind einen Befehl aus der Küche zuruft, kann es sein, dass das Kind ihn nicht umsetzt, weil es ihn nicht verstanden hat. Wenn wir etwas von unseren Vorschulkindern möchten, ist es wichtig, sie beim Reden anzuschauen. Schau deinem Kind ins Gesicht und sprich: „Ich möchte, dass du jetzt deine Sandalen anziehst. Schau her! Ich hab meine Schuhe an. Schau da, auch Papa hat seine Schuhe an. Denn wir gehen jetzt raus. Bitte zieh deine Sandalen an.“ Kleinkinder, die gleichzeitig sehen, was von ihnen gefordert ist, können eine Aufforderung besser verstehen und besser umsetzen.

Es liegt auch an uns Eltern, unsere Aufforderungen verständlich zu formulieren. Lange Schachtelsätze, die Papa oder Mama von einem Ende der Wohnung in die andere Brüllen, sind schwer umzusetzen. Klare Anforderungen in freundlichem Ton gehen unseren Kindern hingegen leicht von der Hand. Für allem für die Kleinen formulieren wir positiv, statt negativ. Denn das Umdenken fällt ihnen noch schwer.

Statt: „Du solltest doch nicht mit den Gummistiefeln quer durch die Küche latschen! Jetzt muss ich den Fliesenboden nochmal wischen!“

Lieber: „Schau, das hier ist die Türschwelle. Bitte zieh deine Gummistiefel aus und lass sie draußen. Dann kannst du über die Türschwelle reinkommen.“

Wenn unsere Kinder spielen, sind sie regelrecht im Spiel versunken. Es kann sein, dass sie unsere Aufforderung tatsächlich nicht gehört haben. Deshalb macht es Sinn, sie sanft am Gesicht zu fassen: „Schau mich an, mein Schatz. In zehn Minuten fahren wir zu Oma. Schau, zehn Finger für zehn Minuten. Du hast noch zehn Minuten zum Spielen.“ Danach erinnern wir unsere Kinder in regelmäßigen Abständen: „Noch sieben Minuten…noch fünf Minuten…noch drei Minuten…noch eine Minute…jetzt ist die Zeit um, mein Schatz. Schau, an meiner Hand ist kein Finger mehr übrig. Jetzt ziehen wir die Jacke und die Schuhe an und fahren los.“

Unsere Kinder müssen ihr Zeitgefühl noch entwickeln. Fünf Minuten können vor allem den Kleinen wie fünf Stunden vorkommen. Wenn wir die Zeit an den Uhrzeigern oder an unseren Fingern visualisieren und unsere Kinder mit regelmäßigen Zeitangaben auf den Abbruch des Spiels vorbereiten, lassen sie sich meist widerstandslos auf uns ein.

Drängt die Kleinen nicht in die Ecke

Wenn wir unsere Kinder hingegen mit überraschenden und unflexiblen Befehlen in die Ecke drängen, provozieren wir ihren Widerstand. „Wir müssen jetzt losfahren! Sofort, schnell! Nein, nicht weiterspielen, jetzt!“ Niemand mag es, auf Knopfdruck zu springen. Niemand mag es, überrumpelt und übergangen zu werden. Wenn unsere Kinder auf solche Methoden widerspenstig reagieren, sind sie nicht „stur“, sondern haben einen gesunden Selbstwert.

Vor allem in der Autonomiephase glauben viele Eltern, dass ihr Kind einfach „stur“ ist. Was mit unseren Kindern in der Autonomiephase tatsächlich passiert, kannst du in sha Allah bald im Artikel „Autonomiephase für Muslime“ nachlesen.

Wann Kinder wirklich stur sind

Natürlich gibt es auch Situationen, in denen unsere Kinder tatsächlich stur sind und uns den Gehorsam verweigern. Wir können dann davon sprechen, dass ein Kind sich in einer Situation „stur“ verhält, wenn:

  • wir sicher sind, dass es unsere Aufforderung verstanden hat.
  • unsere Forderung realistisch und umsetzbar ist.
  • wir unserem Kind genug Zeit zur Umsetzung gegeben haben.
  • das Kind seine Einwände vortragen und sich erklären durfte.

Wenn all diese Voraussetzungen gegeben sind und das Kind unsere Anweisung dennoch schroff zurückweist und die Umsetzung absolut verweigert, dann dürfen wir sagen: „In dieser Situation hat mein Kind sich stur verhalten.“ Auch wenn dies öfter vorkommt, sagen wir nicht: „Du bist stur! Du bist ein Sturkopf! Allah hat dich so stur gemacht! Du hast einen Dickkopf!“ Denn in der islamischen Kindererziehung trennen wir unser Kind von seinem Verhalten. Mehr zu diesem wichtigen Leitsatz findest du im Beitrag „Trenn dein Kind von seinem Verhalten.“ Wer sein Kind lautstark und regelmäßig als stur bezeichnet, läuft Gefahr, genau diese Eigenschaft in seinem Kind zu verankern. Das Verhalten war stur, das Kind aber nicht.

Zwischen zwei Extremen

Wenn es regelmäßig passiert, dass ein Kind den Gehorsam absolut verweigert, bewegen wir uns mit unserer Erziehung meist an einem von zwei Extremen: Entweder das Kind bekommt zu viel Freiraum im elterlichen System und hat deshalb ein Problem mit der Einhaltung von Regeln und Aufforderungen. Oder das Kind wird im elterlichen System zu stark eingeengt und fordert mit seiner Sturheit das Mindestmaß an Eigenständigkeit und Eigenmächtigkeit ein, das jedem Menschen zusteht.

Beim ersten Extrem leben unsere Kinder mangels klaren elterlichen Systems in einem zu großen Freiraum, in dem sie sich verlieren. Dabei brauchen unsere Kinder unbedingt ein Familiensystem, indem sie mit ihren Eltern und Geschwistern leben. Ein klares und nachvollziehbares System aus gut begründeten Regeln, die alle Familienmitglieder anerkennen und achten. Ein System, das unsere Kinder verstehen, in das sie einbezogen werden und das sie deshalb mittragen. Mehr dazu findest du im Beitrag „Der islamische Familienbund“. Eine Familie, die in familiärer Anarchie lebt, kann von ihren Kindern nicht erwarten, sich Regeln oder Anforderungen unterzuordnen. Eltern, die selbst keine Regeln einhalten oder konsequent durchsetzen, können von ihren Kindern keine Konsequenz erwarten. In diesen Extremfällen müssen zunächst die Eltern daran arbeiten, ein nachvollziehbares und begründetes System für die Familie zu etablieren.

Beim anderen Extrem haben die Eltern ein zu enges und kleinliches Familiensystem aufgestellt. Den Kindern fehlt Freiraum. Der Alltag der Kinder wird zu stark reguliert und ihr kindliches Verhalten auf Tritt und Schritt verfolgt. Durch ihr rebellisches Verhalten fordern die Kinder buchstäblich ihre Luft zum Atmen ein. Denn Allah ﷻ hat jedem Menschen das Streben nach Selbständigkeit und Eigenmächtigkeit eingegeben. Eltern, die diese natürliche Veranlagung ihrer Kinder mit kleinlichen Regeln und ständiger Kontrolle ersticken, provozieren die Sturheit ihrer Kinder.

Sturheit kann man vorbeugen

Unsere Kinder brauchen genug Raum, sich zu bewegen und ihre kindliche Kraft und Energie in Bewegung und Kreativität umzusetzen. Enge Wohnungen, die mit Dekoration und Kleinkram vollgestellt sind, provozieren Sturheit, weil sie buchstäblich keinen Raum für unsere Kinder lassen. Unsere Häuser und Wohnungen müssen unseren Kindern den nötigen Raum für Bewegung bieten. Weniger Dekoration und Kleinkram bedeuten meist weniger Verbote und mehr Raum für Kinder.

Kinder brauchen das Gefühl, dass ihre alltäglichen Bitten und ihre vernünftigen Wünsche anerkannt und entsprechend der elterlichen Möglichkeiten umgesetzt werden. Kinder müssen erfahren, dass ihre natürlichen Bedürfnisse von ihren Eltern gesehen und befriedigt werden. Kinder, denen immer „Nein“ gesagt wird, haben keine andere Möglichkeit, als stur zu werden. Kinder, die oft „Ja“, „Ja, aber“ und auch manchmal „Nein“ zu hören bekommen, sind dagegen meist umgänglich. Bitte lies dazu den Artikel/Beitrag „Wenn dein Kind dich um etwas bittet“.

Kinder, denen Aufmerksamkeit und Achtung geschenkt wird, leisten ihren Eltern gern Folge. Denn sie fühlen sich geliebt und gewürdigt. Sie haben Vertrauen, dass Mama und Papa das Beste für sie wollen und nur verlangen, was gut für sie ist. Warum sollten geliebte und gesehene Kinder stur werden?

Kinder, mit denen gesprochen wird, verstehen die Anordnungen ihrer Eltern. Kommunikation und Erklärungen führen nicht zur Tyrannei des Kindes. Sie schaffen Verständnis und klugen Gehorsam.

Kinder, die für ihr gutes Verhalten gelobt werden, deren Einhaltung des häuslichen Systems gewürdigt wird und denen die Eltern für gutes Verhalten danken, fühlen sich anerkannt. Sie freuen sich, Teil des positiven, dankbaren und freundlichen Systems der Familie zu sein. Sie tragen das Familiensystem mit und erachten die Entscheidungen ihrer Eltern als wertvoll. Denn sie fühlen sich selbst wertgeschätzt.

Kinder, die in einem familiären „Gegeneinander“ leben, müssen sich ihre Rechte mit Sturheit erkämpfen. Kinder, die hingegen in einem familiären „Miteinander“ leben, können sich mit Gelassenheit darauf verlassen, dass ihre Rechte und Wünsche geachtet werden. Denn sie haben erfahren, dass ihre Eltern sie im Blick haben und auf ihre Bedürfnisse Acht geben. Sie haben erfahren, dass die Familie miteinander zum Ziel kommt und dass niemand ignoriert oder zurückgelassen wird. Sie haben erfahren, dass die Familie nur gemeinsam gewinnt. Ob die Familie im Gegeneinander oder im Miteinander lebt und agiert, das entscheidet ihr, liebe Eltern. Doch seid gewiss, dass eure Familie nur zusammen gewinnen kann und dass Eltern immer die größten Verlierer sind, wenn sie gegen ihre Kinder spielen.

Geht die „Sturheit“ praktisch an

Liebe Eltern, manchmal wird es Situationen geben, in denen eure Kinder stur reagieren. Doch das muss kein Anlass sein, gegen unsere Kinder in den Kleinkrieg zu ziehen. Begebt euch mit den Kleinen nicht in ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Sie sind nicht unsere Gegenspieler und sie sind nicht mit uns auf Augenhöhe. Sie müssen und dürfen unter der geduldigen und wohlwollenden Anleitung ihrer Eltern noch viel lernen. Alltäglicher Kleinkrieg mit euren Kindern raubt euch die Freude an euren Kindern.

Konzentriert euch darauf, Situationen praktisch anzugehen und zu lösen. Es geht nicht darum, zu gewinnen. Es geht darum, für das konkrete Problem eine konkrete Lösung zu finden, mit der Eltern und Kinder zufrieden sind. Löst die vermeintliche „Sturheit“ eurer Kinder im Alltag, ohne ihre Persönlichkeiten und Herzen zu brechen. Denn wer mit dem Stock erzieht, legitimiert Ungehorsam und Rebellion.

Liebe Mama, lieber Papa, du warst dann erfolgreich, wenn du die „sture“ Situation gelöst hast, ohne gegen Allah ﷻ und ohne die gegen die islamischen Grundprinzipien eures Familiensystems zu verstoßen und ohne deine liebevolle Beziehung zu deinem Kind zu schädigen. In den großen, weiten Herzen ihrer Eltern werden willensstarke Kinder nicht stur, sondern stark.

Allah ﷻ prüft dich mit deinem willensstarken Kind. Möge es unter deiner wohlwollenden und liebevollen Erziehung und durch deine verständnisvolle Geduld zu einer großen Persönlichkeit heranwachsen. Möge Allah ﷻ uns nicht mit kleinen und großen Ja-Sagern prüfen, denn davon hat diese Ummah schon viel zu viele.